Paul Klees Reisen, Oswald Spengler und die Suche nach dem Ur-Symbol [chapter]

Frank Zöllner
2016
Wenn Künstler um ihrer Kunst willen reisten, dann fuhren Sie bis vor gar nicht langer Zeit meistens gen Süden. Stand im Mittelpunkt der klassischen Künstlerreise zunächst Italien mit seinem unübertroffenen Reichtum antiker, mittelalterlicher und neuzeitlicher Kunstschätze, folgten neben europäischen Reisezielen wie Frankreich, Spanien und Griechenland bald auch außereuropäische Länder wie Tunesien, Algerien, Marokko und Ägypten. Ungefähr diese Reihenfolge ergibt sich auch für den 1879 in Bem
more » ... orenen und 1940 in Muralto bei Locamo verstorbenen Paul Klee1, der im vergangenen Jahrzehnt wie kaum ein anderer Künstler mit ebenso zahlreichen wie wissenschaftlich bedeutenden Ausstellungen gewürdigt wurde.2 Die große Zahl von Einzel-Ausstellungen spricht nicht nur für die überragende Bedeutung Paul Klees, sondem sie erklärt sich auch aus dem relativ hohen Niveau der Klee-Forschung, das bislang für keinen anderen Künstler der klassischen Modeme erreicht wurde. Das hohe Bedeutungsniveau Klees mag man auch damit erklären, dass die Werke des Berner Künstlers gelegentlich zu weitreichenden Deutungen einladen, zu Deutungen mit potentiell symbolischer Tiefe, der Klee mit der verrätselten und mehrdeutigen Zeichensprache seiner Bilder sowie durch seine poetischen, oft auch ironischen Bildtitel Vorschub geleistet hat. Exemplarisch für diese von Klee selbst vorprogrammierte Deutungstendenz sind die entsprechenden älteren Exegesen, die noch bis vor einigen Jahren den Standard der Klee-Forschung repräsentierten. So deutet Rolf Linnenkamp den Pfeil in Klees aquarellierter Federzeichnung ,3etroffener Ort" (1922/ 109, Kunstmuseum Bem) als "Symbol der Vemichtung", das aus "übermenschlichen Schichten" hereinbricht. Er hört den "Urschrei des Betroffenen" in der "Geschichte des Elends", sieht den "Um-1 Zu Paul Klees Reisen vgl. Paul Klee, Briefe (1977); Die Tunisreise (1982); Paul Klee, Tagebiicher (1988); Wada (o.282 Frank Zöllner schlag von Transzendenz in Transzendentalität anschaulich gemacht" und das "logisch Unfassliche" durch "gleichnißartige Übertragung bildlich erfasst".3 Nicht weniger symbolisch und gleichnisartig versteht Linnenkamp auch das im Todesjahr Klees entstandene Kleisterfarbenbild "Dieser Stem lehrt beugen" (1940/ 344, Kunstmuseum Bem, Abb. 1), dessen Zeichenhaftigkeit am Ende einer langen Reihe glyphischer und damit ägyptisch inspirierter Werke steht. Das Gegenständliche sei stark "versohlüsselt", das Gebilde im linken oberen Bildviertel eine "allgemeine Abkürzung vieler mögücher Formen des Stemes, der als überirdische Erscheinung längst zum beschwörenden Emblem weltlicher Macht geworden ist". Die Darstellung insgesamt könne nur "als Gleichnis des Menschen" verstanden werden.4 Einseitig phänomenologisch ausgerichtete und eindimensional dem Symbolischen verhaftete Exegesen dieser Art gelten in der sehr kritischen Forschung inzwischen zu Recht als unakzeptabel5, doch sie demonstrieren eindrucksvoll die suggestive Kraft der von Klee eingesetzten Verrätselung und Symbolsprache sowie die ambivalente Diskursfähigkeit seiner Bilder. Wenn Klees Kunst in hohem Maße diskursfähig ist, dann hängt das u.a. mit seiner Verarbeitung von Schlüsselthemen der abendländischen und teilweise auch der außereuropäischen Kultur zusammen. Hierzu zählen beispielsweise die Musik6, der Mythos7, die Charaktere und Geschichten des literarischen Kanons sowie die Hieroglyphen und andere Zeichen orientalischer Kulturen.8 Unter den Hauptthemen nehmen die Musik und die alt-ägyptische Kultur den wichtigsten Platz ein. So lassen sich zahlreiche Gemälde und Aquarelle wie etwa "Polyphon gefaßtes Weiß" (1930/140, Kunstmuseum Bem) auf Klees Versuche beziehen, die Polyphonie der Musik mithilfe von Farb-, Farbton-und Flächennuancierungen auch in der Malerei anzuwenden. Das großformatige Leinwandbild "Ad pamassum" (1932/274, Bem, Kunstmuseum, Abb. 2) aus dem Jahre 1932 hingegen vereint gleich mehrere Kardinalthemen: Der Titel, "Ad pamassum", bezieht sich auf einen zentralen Text der Musikgeschichte, auf die erstmals 1725 von Josef Fux publizierte Abhandlung "Gradus ad pamassum", die eine Zeit lang als Standardwerk zu Polyphonie und Kontrapunktik galt.9 Zudem impliziert der Titel "Ad pamassum" einen Bezug auf den Pamass, den Hügel der Musen aus der griechischen Antike. Darüber hinaus verweisen weitere Formelemente darauf, dass hier mehr gemeint ist als nur der Musenhügel: Statt einer begrünten Bergkuppe in lieblicher Landschaft mft Klee mit seiner Darstellung Assoziationen an eine Pyramide wach, deren charakteristische Form sich vor blauem Himmel abhebt und deren Basis sogar einen architektonisch gestalteten Eingang aufweist. Klee
doi:10.11588/artdok.00004464 fatcat:xm4jmzmyxzekzjywoc5bcfvr2e