Video meliora proboque, deteriora sequor. Ovid und seine Medea [chapter]

R. [Hrsg.] Kussl
2009
Video meliora proboque, deteriora sequor Ovid und seine Medea MARWOOD ... Zittre für deine Bella! Ihr Leben soll das Andenken meiner verachteten Liebe auf die Nachwelt nicht bringen; meine Grau samkeit soll es tun. Sieh in mir eine neue Medea! MELLEFONT (erschrocken). Marwood -MARWOOD. Oder wenn du noch eine grausamere Mutter weißt, so sieh sie gedoppelt in mir! Gift und Dolch sollen mich rächen. Doch nein, Gift und Dolch sind zu barmherzige Werkzeuge! Sie würden dein und mein Kind zu bald
more » ... . Ich will es nicht gestorben sehen; sterben will ich es sehen! Durch langsame Martern will ich in seinem Gesichte jeden ähn lichen Zug, den es von dir hat, sich verstellen, verzerren und verschwin den sehen. Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied, Ader von Ader, Nerve von Nerve lösen, und das kleinste derselben auch da noch nicht aufhören zu schneiden und zu brennen, wenn es schon nichts mehr sein wird, als ein empfindungsloses Aas. Ich -ich werde wenigstens dabei empfinden, wie süß die Rache sei! 1 So gestaltet Gotthold Ephraim Lessing in seinem Bürgerlichen Trauer spiel Miss Sara Sampson den Augenblick höchster Gefahr: Medea, der einzige dem Mythos entnommene Name im gesamten Stück, ist der In begriff der Rabenmutter, ja einer Frau, bei der das Wort "Mutter" ganz und gar fehl am Platze ist -einer Frau, von der es in Friedrich Schillers Traktat Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet heißt: 2 Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Ge setze sich endigt. ... Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Palastes herunterwankt und der Kindermord jetzt geschehen ist. Das ist nicht nur ein Reflex neuzeitlicher Medea-Vorstellungen, viel mehr gilt Medea schon der Antike als Inbegriff nicht mehr mensch lichen Verhaltens. Jeder Versuch der Rehabilitation ist also ein Skandalon. Daß ihn die Neuzeit gewagt hat, gipfelnd in Christa Wolfs Ro-Schmitzer man Medea. Stimmen (1996) 3 , ist ein erwartbarer Tabubruch. 4 Wie sich aber auch in der Antike Ansätze zu differenzierterer Betrachtung zeigen, das sei nun anhand von Ovids 5 facettenreicher Gestaltung des Mythos erörtert. 6 Am Anfang stehe ein drastisches Beispiel, die Elegie am. 2,14, in der Corinna die Gefahren einer Abtreibung vor Augen geführt werden (am. 2,14,29-34): 7 Colchida respersam puerorum sanguine culpant aque sua caesum matre quemntur Ityn; utraque saeva parens, sed tristibus utraque causis iactura socii sanguinis ulta virum. dicite, quis Tereus, quis vos inritet Iason figere sollicita corpora vestra manu? Man beschuldigt die Kolcherin, die mit dem Blut ihrer Kinder bespritzt ist, und man klagt über Itys, der von der eigenen Mutter getötet wurde. Beide waren grausame Mütter, aber beide aus traurigem Grund, da sie sich durch das Opfer des gemeinsamen Fleisches und Blutes an ihrem Gatten rächten. Sagt, welcher Tereus, welcher Iason euch in den Wahnsinn treibt, mit banger Hand euren Körper zu durchbohren. Sieht man genauer hin, wird deutlich, daß Medea sogar einen Hauch von Verständnis für ihr Verhalten ernten kann, da ihr Iason, der feige Ehebrecher, so übel mitgespielt hat. Das ist gewissermaßen Ovids aus der literarischen Tradition 8 und teilweise auch gegen diese entwickelte Medea in nuce: Sie ist einerseits Täterin, die machtvolle Zauberin aus dem jenseits der Grenzen der Zivilisation gelegenen Kolchis. Sie ist aber auch die Frau in einer Extremsituation, von ihrer Umwelt zum Äußersten getrieben. Dieser doppelten Medea gilt Ovids besondere Aufmerksamkeit. Aber, muß man mit Blick auf die neuere Forschung fragen, welche der unter Ovids Namen bekannten Versionen des Medea-Stoffes stammen überhaupt von ihm? Bekanntlich schreibt Quintilian (inst. 10,1,98): Ovidi Medea videtur mihi ostendere quantum ille vir praestare potuerit si ingenio suo imperare quam indulgere maluisset ("Ovids Medea scheint mir zu zeigen, wieviel er hätte leisten können, wenn er seinem Talent lieber Zügel hätte anlegen wollen als ihm nachzugeben."). 22 Ovid und seine Medea Allerdings ist von dieser gepriesenen Tragödie nichts erhalten bis auf zwei Zitate 9 , die jeweils von Medea selbst gesprochen zu sein scheinen, so daß schon viel gelehrter Scharfsinn aufgewendet wurde, um Abfassungszeit und Inhalt genauer bestimmen zu können. 10 In dieser schwierigen Situation hat Holzberg zur Radikallösung gegriffen, die Tragödie zur poetischen Fiktion erklärt, das Distichon, mit dem Ovid in trist. 2 von seinen Bemühungen spricht, athetiert und gefragt: "Und wäre es gar vorstellbar, daß ein ... Unbekannter, dem zu dem Tragödiendichter die Tragödie fehlte, unter Ovids Namen eine Medea publizierte, die dann Seneca der Ältere, Quintilian und Tacitus für echt hielten ...?"' 1 Die Frage im Konjunktiv hat neuerdings eine Bekräftigung im Indikativ erhalten. Otto Zwierlein 12 spricht nicht nur das inkriminierte Distichon dem Ovid ab, sondern dazu gleich die gesamten Heroides -und damit die beiden Briefe, in denen Medea eine Rolle spielt -, obendrein die Medicamina faciei femineae, die Ibis-Invektive und weite Strecken der übrigen Gedichte. So unterschiedlich Holzbergs eher ins Blaue hinein vorgetragene Attacke und Zwierleins von vielen Hilfstruppen gestützter Generalangriff sind, beide lasten vermeintliche oder tatsächliche Anstöße im Sprachgebrauch nicht Ovid an, sondern machen dafür einen sekundären Eingriff verantwortlich, rekonstruieren also gewissermaßen eine Normalform von Ovids Dichtersprache und erheben diese zur Norm in Echtheitsfragen. Ebenso stellen für beide Mehrfachbehandlungen bestimmter Themen Indizien dafür dar, Ovid den entsprechenden Text abzuerkennen. Es wird nun aber ohne primär apologetische Intention zu fragen sein, ob Ovid nicht doch gute Gründe für wiederholte, eventuell multiperspektivische Behandlung des Themas haben könnte. Leitmotivisch wird uns dabei die Frage nach Rezeption und Intertextualität begleiten. Das soll nun anhand der Briefe 6 und 12 13 der Heroides, des Beginns des 7. Metamorphosen-Buches sowie der Elegie trist. 3,9 genauer untersucht werden, an Beispielen aus allen drei Schaffensphasen des Autors. -Oder, um die Abschnitte ein wenig modischer zu formulieren: Becoming Medea 14 -Being Medea -Medea was here. 23 Schmitz« Die Briefe 6 und 12 der Heroides bilden ein thematisches Paar, 15 abgesehen von den Doppelbriefen das einzige der Sammlung. Zunächst klagt Hypsipyle, die von Iason auf Lemnos zurückgelassene Königstochter, daß Medea ihr vorgezogen wurde, sodann Medea ihrerseits über die bevorstehende Hochzeit Iasons mit Kreusa. Zunächst zu epist. 6: 16 Nach der knappen Anrede an den entfernten Adressaten beginnt der Brief mit einer Selbstvorstellung (epist. 6,1-8): 17 Litora Thessaliae reduci tetigisse carina Diceris auratae vellere dives ovis. Gratulor incolumi, quantum sinis; hoc tarnen ipsa Debueram scripto certior esse tuo. Nam ne pacta tibi praeter mea regna redires, Cum cuperes, ventos non habuisse potes. Quamlibet advereo signetur epistula vento: Hypsipyle missa digna salute fui. An der Küste Thessaliens -so sagt man -bist du mit deinem Schiff, das dich zurückbrachte, wieder gelandet, reich durch das Fell des Goldenen Schafes. Ich freue mich, daß du unversehrt bist, soweit du es zuläßt; aber eigentlich hätte ich selbst darüber durch einen Brief von dir in Kenntnis gesetzt werden müssen. Denn daß du nicht im Vorüberfahren in mein Königreich, das dir als Mitgift versprochen ist, zurückkehrtest, obwohl du es doch wolltest, dafür hattest du vielleicht keine glücklichen Winde. Mag der Wind auch noch so widrig gewesen sein, so sollte doch ein Brief gesiegelt werden: Ich, Hypsipyle, wäre es wert gewesen, einen Gruß gesandt zu erhalten. Iason hat seine Mission in Kolchis mit dem Argonautenzug erfolgreich hinter sich gebracht und ist in die Heimat zurückgekehrt: Das wird eindeutig durch die Nennung von Thessalien und vor allem des Goldenen Vlieses definiert. Ovid enthüllt Schritt für Schritt, wieso seine Hypsipyle über Iasons Schicksal Bescheid wissen kann: Zuerst spricht sie allgemein von der fama, die dem erwarteten Brief zuvorgekommen sei. Dann präzisiert sie ihre Quelle: Sie weiß es von einem hospes Thessalus, den es nach Lemnos verschlagen hat. Und so kann Ovid sie dessen Bericht mit einer Kurzfassung der Abenteuer in Kolchis referieren lassen. Mit diesem verfremdenden Blick fuhrt Ovid ein neues Ele-24 Ovid und seine Medea ment in die Erzählungen von Medea und den Argonauten ein: weder aus der Sicht des episch-objektiven Erzählers noch einer dramatis persona, sondern in indirekter Brechung, fast wie in einer Teichoskopie oder einem Botenbericht, wird das dem Publikum prinzipiell bekannte Geschehen vorgeführt, ein Ausweg, der vor einem nur epigonalen Referat bewahrt. Zugleich zeigt das die differenzierte Funktion der narrativen Instanzen und den unterschiedlichen Grad ihres Wissens in den Heroides: Ovids Figur Hypsipyle beweist Iason auf diese Weise, daß sie an seinem Schicksal Anteil genommen hat. Zugleich beklagt sie sich, daß sie all das nicht brieflich von Iason selbst erfahren hat, und setzt -durch narratur deutlich distanziert -fort (19-20): barbara narratur venisse venefica tecum, in mihi promissi parte recepta tori. Man erzählt, daß eine barbarische Giftmischerin mit dir gekommen ist, aufgenommen in den Teil des mir versprochenen Ehebetts. Hypsipyles Wut und Trauer steigern sich weiter, wenn sie sich im Prozeß des Schreibens vergegenwärtigt, welche Ängste sie um Iason ausgestanden hat, welche Schwierigkeiten sie auch selbst auf sich genommen hat und wie das nun alles vergeblich war (75-82): vota ego persolvam? votis Medea ftuetur! cor dolet, atque ira mixtus abundat amor. dona feram templis, vivum quod Iasona perdo? hostia pro damnis concidat icta meis? non equidem secura fui semperque verebar, ne pater Argolica sumeret urbe nurum Argolidas timui: nocuit mihi barbara paelex! non expectata vulnus ab hoste tuli. Die Gelübde soll ich erfüllen? Die Gelübde werden Medea nützen! Das Herz schmerzt, und es geht mir über von Liebe, vermischt mit Zorn. Gaben soll ich in den Tempeln dafür darbringen, daß ich Iason bei lebendigem Leib verliere? Ein Opfertier soll getroffen zusammensinken zum Zweck meines eigenen Schadens? Ich für meinen Teil war niemals ohne Sorgen und ängstigte mich immer, daß sein Vater aus einer argolischen Stadt eine Schwiegertochter auswählen könnte. Die Argiverinnen fürchtete ich: Jetzt hat mir eine barbarische Hure geschadet. Eine Wunde habe ich erhalten von einer unerwarteten Feindin.
doi:10.11588/propylaeumdok.00000209 fatcat:nb7iqliozfdafj2ls3ybjvja3y