Subjektive Präferenzordnungen und der bedingte Vorrang der Moral [chapter]

Ch. Neuhäuser
2017 Vorrang der Moral?  
Bin ich in jedem Fall unvernünftig, wenn ich nicht das moralisch Gebotene tue? Oder wäre es zumindest stets vernünftiger von mir, das moralisch Gebotene und nicht etwas anderes zu tun, wenn ich zwischen diesen beiden Alternativen die Wahl habe? Mir scheint die Antwort auf diese Fragen klar zu sein. Ich glaube nicht, dass es immer unvernünftig ist, nicht das moralisch Gebotene zu tun. Ich glaube auch nicht, dass es immer vernünftiger wäre, das moralisch Gebotene zu tun. In den folgenden
more » ... gen werde ich mich auf die Frage konzentrieren, ob es zumindest immer vernünftiger wäre, das moralisch Gebotene zu tun. 1 Denn diese Frage stellt für jemanden, der den strikten Vorrang der Moral ablehnt, die größere Herausforderung dar. 2 Um meine Intuition, dass der Moral kein strikter Vorrang zu kommt, plausibel zu machen, werde ich in drei Schritten vorgehen. Zuerst werde ich einige Beispiele vorstellen, die zeigen sollen, dass unsere intuitiven Urteile darüber, ob eine Handlung moralisch ge boten ist und ob es vernünftiger wäre, diese Handlung zu wählen, voneinander abweichen können. Dann werde ich in einem zweiten Schritt auf der Grundlage einiger entscheidungstheoretischer An nahmen zeigen, dass es eine gute Erklärung für diese verschiede 1 Sarah Stroud (1998) hat geltend gemacht, es könne gleichzeitig der Fall sein, dass eine unmoralische Handlungsalternative A vernünftig, die morali sche Handlungsalternative B aber vernünftiger sei. Daher müsse untersucht werden, ob es zutrifft, dass B immer vernünftiger ist. 2 Ich unterscheide nicht systematisch zwischen Klugheit (rationality) und Vernünftigkeit (reasonableness), wie es im Anschluss an John Rawls üblich ist. Vernünftigkeit im Rawls'schen Sinne stellt bereits auf Kooperation und allgemeine Rechtfertigbarkeit ab und hat eine moralische Dimension (Rawls 1998, 121). Stattdessen verwende ich »Vernünftigkeit« als alltagssprachliches Äquivalent für »Klugheit«.
doi:10.5771/9783465142768-196 fatcat:mx4ctxztmzf3tlynywhjjx7bny