Das Verbot sittenwidriger Löhne und die Europäische Sozialcharta

Ghazaleh Nassibi
2010 Kritische Justiz  
Die neue Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, "die Rechtsprechung zum Verbot sittenwidriger Löhne gesetzlich festzuschreiben, um Lohndumping zu verhindern". 1 Auf den ersten Blick erscheint dies unterstützenswert, denn der Schutz von Beschäftigten vor Niedriglöhnen ist angesichts der immer weiteren Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse und niedrig entlohnter Tätigkeiten 2 dringend geboten. Der folgende Artikel untersucht -nach einem Überblick über die
more » ... n Wege der Lohnfestsetzung in Deutschland -, was unter "Rechtsprechung zum Verbot sittenwidriger Löhne" zu verstehen ist und wie weit ihr Schutz reicht. Zudem soll geklärt werden, inwieweit auch die Europäische Sozialcharta (ESC) in Deutschland zum Schutz vor Niedriglöhnen herangezogen werden kann. Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. daran. 9 In einigen regionalen Tarifbereichen gibt es allgemeinverbindliche Entgelttarifverträge nach dem Tarifvertragsgesetz (TVG). 10 Daneben gibt es noch die Branchen, in denen über das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) oder das Mindestarbeitsbedingungengesetz (MindArbBG) Löhne für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Damit zeigt der Staat, dass er die besondere Schutzbedürftigkeit von Beschäftigten vor Niedriglöhnen anerkennt. Er geht aber nur dort spezifisch tarifersetzend vor, wo es keine funktionsfähigen Tarifvertragsparteien und eine nur geringe Tarifbindung gibt, so mit dem MindArbBG. Ansonsten beschränkt er sich darauf, die in Tarifverträgen vereinbarten Arbeitsbedingungen durch staatlichen Gestaltungsbefehl zu erstrecken, so in Branchen mit hoher Tarifbindung durch § 5 TVG und durch das AEntG. In der öffentlichen Auftragsvergabe kann schließlich die sog. Tariftreueerklärung zu einer indirekten staatlichen Entgeltkontrolle führen. Das MindArbBG und das AEntG wurden in der letzten Legislaturperiode nach langen Debatten reformiert. 11 Doch werden die Reformen vielfach kritisiert, da die Gesetze nach wie vor Lücken aufweisen: Über das AEntG können nur in Branchen mit hoher Tarifbindung bestehende Tarifverträge für die gesamte Branche für allgemeinverbindlich erklärt werden. Dort aber, wo keine Tarifverträge existieren oder nur eine geringe Tarifbindung besteht, entfaltet das Gesetz keine Wirkung. 12 Ob das MindArbBG zu einem wirksamen Instrument gegen Lohndumping wird, hängt u.a. davon ab, ob mit dem Gesetz auch über das Existenzminimum hinausgehende, angemessene Löhne festgesetzt werden. 13 Auch mit § 5 TVG sind keine strukturellen Veränderungen durchsetzbar, da damit nur eine punktuelle Ausweitung von Tarifbedingungen erreicht, nicht aber die durch Deregulierung des Flächentarifvertrags verlorengegangene Geltungskraft des Tarifvertrags zurückgewonnen werden kann. 14 Schließlich bewirken Tariftreueklauseln in der öffentlichen Auftragsvergabe zwar die Sicherung von Mindestlohnstandards, aber sie erfassen auch "nur" den Bereich der öffentlichen Vergabe. Zudem hat das Rüffert-Urteil des EuGH vom 3.4.2008 große Unsicherheit über die Zulässigkeit von Tariftreueklauseln in den Vergabegesetzen der Bundesländer hervorgerufen. 15 Abgesehen davon gibt es in Deutschland keinen für alle Branchen verbindlichen Mindestlohn. So ist bei vielen Arbeitsverhältnissen die Lohnhöhe weder tariflich noch gesetzlich geregelt. Hier gilt die Privatautonomie, die prinzipiell die Vereinbarung jeder Lohnhöhe ermöglicht. 16 Dabei wird von der Richtigkeitsgewähr vertraglicher Vereinbarungen ausgegangen. 17 Wenn aber zwischen den Vertragsparteien ein offensichtliches strukturelles Ungleichgewicht besteht, ist die Ordnungsfunktion des Privatrechts gestört. 18 Insbesondere beim Abschluss von Arbeitsverträgen ist ein strukturelles Ungleichgewicht gegeben, weil sich die Beschäftigten, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, sich typi- 9 Bayreuther, NJW 2007, 2024
doi:10.5771/0023-4834-2010-2-194 fatcat:usq25k6m5jg4jkhfx2grl2rrcq