Der 1. Mai als totalitäres Theater in der Volksrepublik Polen (1949-1954)

Paweł Sowiński
1999
In der über hundertjährigen Geschichte des Ersten-Mai-Feiertags in Polen hat die kommunistische Zeit seine gegenwärtige Wahrnehmung am meisten beeinflußt. Der Feiertag, an dessen Anfang die Idee der Einheit -wenn auch nicht aller werktätigen Menschen, so doch zumindest der Arbeiter -stand, teilt im heutigen Polen mehr als daß er verbindet. Denn dieser Tag hat im gesellschaftlichen Bewußtsein eine zusätzliche Macht als symbolischer Feiertag Volkspolens erhalten. Den Protagonisten der Epoche
more » ... t er Gelegenheit, ihre Nostalgie für die Volksrepublik Polen (Polska Rzeczpospolita Ludowa, PRL) auszudrücken und deren Errungenschaften hervorzuheben; für die Antagonisten ist er -umgekehrt -ein Ruf gegen das Vergessen und eine Abrechnung mit dem Unrecht, welches das kommunistische Regime zugelassen hat. Wenn das so ist, dann tritt die kommunistische Vergangenheit des Feiertages selbst zusammen mit der Erinnerung an den Verlauf der Feierlichkeiten unvermeidlich in den Hintergrund, und manchmal ist sie infolge der Einwirkung des fundamentalen Konflikts um das Verhältnis zur PRL völlig verwischt. Ziel der vorliegenden Abhandlung ist es, den rituellen Teil der Ersten-Mai-Feierlichkeiten zu rekonstruieren. Es ist der Versuch, einerseits die feierliche Vision einer idealen Welt, einer Utopie samt dem ganzen Reichtum an Mythen und Vorstellungen, die einen wesentlichen Teil der Feierlichkeiten ausmachten, zu betrachten, andererseits eine Feier zu beobachten, die in einer Mikroskala die Organisation eines totalitären Staates widerspiegelt. Als Beobachtungspunkt wie auch Beobachtungsfeld der Arbeit wurde ein willkürlich ausgewählter ,Ort' genommen, aber wie ich meine, ein hinreichend charakteristischer, der eine gesonderte Studie lohnt. Es ist dies das Objektiv der Filmkamera, die den Umzug der Teilnehmer der Feierlichkeiten begleitet. Die Kameramänner hielten auf den Filmrollen viele Stunden mit Aufnahmen der Feierlichkeiten des Ersten Mai aus den Jahren 1949 bis 1954 fest. Obwohl die Materialien aus verschiedenen Landesteilen stammen, so sind doch jene Filme am sprechendsten, die den Warschauer Umzug abbilden, da sie sich aufgrund des Rangs und des Niveaus der zu Propagandazwecken genutzten Regiearbeit als die besten erweisen. Die Filmmaterialien habe ich den Beständen des Archivs für Dokumentarund Spielfilmproduktion in Warschau entnommen. Zu den durchgesehenen Filmen gehören Filmchroniken, die jedes Jahr über den Verlauf der Ereignisse berichteten. Sie waren mit dem Kommentar eines Sprechers versehen, der bei der Identifizierung einzelner Personen oder Darbietungen sehr hilfreich war.
doi:10.25627/19994836985 fatcat:zuss4iwcx5dapickq3lasgfhqu