Neuere Ansätze in der Anthropogeographie

R. Hantschel
1984 Geographica Helvetica  
man die Aufsätze in verschiedenen geographi¬ schen Zeitschriften durchsieht, dann zeigt sich auch heute nochinzwischen 15 Jahre nach Kieldie Tendenz zu ständiger Kritik an bisherigen geographi¬ schen Konzeptionen und deren Vertretern. Obwohl dies teilweise intellektuell sehr anregend ist und sicher wichtig für die Klärung von Standpunkten: irgend¬ wann müssen die Konsequenzen in Form von Neuvorschlägen gezogen werden, um das Fach weiterzubringenwenn man nicht mit einigen völlig Resignierenden
more » ... ereinstimmt und meint, daß die Institution Geographie am besten ganz aufzulösen sei. Das gilt auch für das Problem des «Handlungsbezugs» von Wissenschaft. Die Diskussion des Gedankenguts von Kritischem Rationalismus und Kritischer Theorie sollte allmählich als abgeschlossen gelten. Um gleich einen persönlichen Standpunkt zu klären: ich vertrete die Auffassung, daß es nicht möglich ist, sich aus den eigenen zeitlichen und gesellschaftlichen Bindungen vollständig herauszulösen und Dingesozusagen «neben sich selbst stehend» -«objektiv» zu betrach¬ ten. Aber es gibt eben nach wie vor Fachvertreter, die in diesem Punkt anderer Ansicht sindob aus Bequemlichkeit, mangelnder Reflexion oder wirkli¬ cher Überzeugung, mag dahingestellt bleiben. Jeden¬ falls meine ich, daß der missionarische Eifer, auch den letzten Kollegen vom eigenen wissenschaftstheo¬ retischen Standpunkt zu überzeugen, unnötige Ener¬ gie verschleißt und im Grunde von Intoleranz zeugt. Man sollte vielmehr dazu übergehen, die Forderung nach Handlungsbezugwenn man sie auf theoreti¬ scher Ebene vertrittauch in tatsächliche wissen¬ schaftliche Handlungen umzusetzen. Ich werde mich im folgenden daher auch nicht mit der Rechtfertigung dieses Standpunktes beschäftigen, sondern mit eini¬ gen Konsequenzen für die praktische Forschungsar¬ beit Dazu ist es vielleicht sinnvoll, kurz einige Grundposi¬ tionen der Geographie aufzugreifen bzw. zu klären, denn ein Fach, daswie kaum ein anderesfast alle Lebensund Erkenntnisbereiche berührt, könnte nur allzu leicht in die Gefahr geraten, aus dem Auftrag zu Praxisbezug und Handlungsansatz die Legitimation abzuleiten, sich sozusagen in Fragen aller Lebensbe¬ reiche «einzumischen». Hier muß man zunächst festhalten, daß aus wissenschaftstheoretischer Sicht nicht der Belrachtungsgegenstand, sondern die Per¬ spektive ein Fach ausmacht So ist z. B. «der Mensch» ein Untersuchungsobjekt, das unter sehr verschiede¬ nen Aspekten betrachtet werden kann, z.B. dem der biologischen Funktionen (von der Biologie), der Funktionsstörungen (von der Medizin), der gestalteri¬ schen Ausdrucksmöglichkeiten (von Musik-, Litera¬ turund Kunstwissenschaften) usw. Auch das Objekt «Erde» kann mit sehr unterschiedli¬ chen Frageansätzen betrachtet werden, d. h. es werden jeweils Teilaspekte herausgegriffen, die verschiedene Wissenschaftsbereiche konstituieren. Fachdisziplinen ergeben sich also eher durch die Betrachtungsweisen der Forschenden und nicht aus der «Natur» der Objekte. Dazu kommt, daß nicht nur die immer stärkere Spezialisierung im Laufe der Wissenschafts¬ entwicklung zu Fächerspaltungen führte, sondern oft geradezu Zufälligkeiten der Institutionalisierung. Damit erscheint der in der Geographie lange Zeit zäh unternommene Versuch, «ihren» Betrachtungsgegen¬ stand gegen andere Disziplinen abzugrenzen, relativ bedeutungslos. Vielleicht kann man sich auf die Aussage einigen, daß auf der einen Seite die räumliche Betrachtung ein Einstieg für geographische Analysen ist, die aber dann nicht bei den rein räumlichen Strukturen stehenbleiben dürfen, sondern z. B. die gesamte Gesellschaft mit einbeziehen müssen, wenn es um Einflüsse des Menschen auf den Raum geht, daß aber auf der anderen Seite die Geographie den Raum nicht als «exklusives Objekt» für sich gepachtet hat. Wenn man nun die verschiedenen neueren Ansätze in der Geographie betrachtet, die einerseits die immer stärkere Spezialisierung widerspiegeln, andererseits aber auch die geforderte Verflechtung mit anderen Disziplinen der naturund gesellschaftswissenschaftli¬ chen Bereiche, dann scheint es vielleicht manchmal "Vortrag, gehalten am Geogr.
doi:10.5194/gh-39-137-1984 fatcat:bmycovjpxzc27ilu3767k64264