Einleitung
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2021
Perfekt unperfekt
Daher muss ein Redner unauffällig ans Werk gehen und keinen gekünstelten, sondern einen natürlichen Eindruck erwecken. Denn die Leute fühlen sich betrogen, wenn man heimlich etwas gegen sie im Schilde führt -ähnlich wie wenn Wein gepanscht wird. (Aristoteles, Rhetorik) Ein Werk, das perfekt geschliffen erscheint, zeugt von Könnerschaft und Talent, von Fleiß und Sorgfalt. Durch den Schliff erhält es Eleganz, Subtilität, Schönheit. Es wird ihm aber auch etwas genommen, nämlich seine Ecken und
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... en, seine Rauheit und seine ‹natürliche› Ausdruckskraft. Was ungeschliffen daherkommt, kann ebenfalls seinen Reiz haben, eine rohe Kraft entwickeln, einen eigenständigen Charakter ausdrücken oder eine authentische Glaubwürdigkeit vermitteln. Dieses Spannungsfeld zwischen perfekt und unperfekt wird im vorliegenden Buch, das auf meiner Dissertation an der Universität Bern und der Hochschule der Künste Bern basiert, erstmals systematisch untersucht: Welche Wirkungen können durch eine perfekte oder nicht perfekte Ausarbeitung erzielt werden und in welchen Kontexten ist welcher Elaborationsgrad angebracht? Wie funktioniert das Wechselspiel von Perfektion und Imperfektion in den Künsten und im Design? Die Handwerksmetapher des ‹Schleifens› oder ‹Polierens› für Prozesse und Werke der Kunst ist nicht neu: Bereits in der klassischen Rhetorik taucht die Idee des polire im Zusammenhang mit der Elaboration der Rede immer wieder auf, um den Prozess und Effekt der präzisen, detaillierten oder sorgfältigen Ausarbeitung zu benennen. Die Rhetorik folgt dabei einem Perfektionsideal, das die Produktionstechnik, den Stil der Rede sowie den Redner selbst umfasst und das für jede Ebene ausführliche Anweisungen zur Erreichung der Vollkommenheit vorgibt. Gleichzeitig sieht sich schon die antike Rhetorik in einem Dilemma zwischen ‹ausgefeilter› und ‹naturbelassener› Rede. Deshalb spricht sie sich nicht für maximale Geschliffenheit aus, sondern empfiehlt mitunter auch ein Verbergen der eigenen Kunstfertigkeit oder das bewusste Einbauen ‹unbehauener› Elemente. Aus welchen Gründen dies geschieht und welche Vorteile sich Rednerinnen und Redner von der Elaboration, aber auch von der Imperfektion erhoffen können, erforscht dieses Buch im Detail. Auch Grafikdesign oder visuelle Gestaltung kann je nach Anwendungskontext unterschiedlich ausgearbeitet sein − mal perfekter, mal weniger perfekt. Machart, Formgebung und Produktionsweise − und somit auch der Grad der Elaboration − variieren je nach Gestaltungskontext. Nun scheint es Situationen zu geben, die eine wenig elaborierte Gestaltungsweise zulassen oder gar erfordern: Während ein Plakat für das Stadttheater einen hohen Elaborationsgrad, d.h. eine professionelle, durchdachte, originelle und gestalterisch wie technisch hochwer-Open Access. © 2022 Schneller, Annina, publiziert von De Gruy ter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.
doi:10.1515/9783110680942-001
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