Die Metamorphosen des Naturrechts - Zur sozialen Funktion vorbürgerlicher und bürgerlicher Rechtsbegründungen
Stefan Breuer
1983
Kritische Justiz
Zur sozialen Funktion vorbürgerlicher und bürgerlicher Rechts begründ ungen ' :. ~De iure naturae multa fabulamur~ -diese Feststellung Manin Luthers hat nach viereinhalb Jahrhunderten nichts yon ihrer Gültigkeit verloren .' Zwar ist es in der Jurisprudenz trOtz einer kurzen Scheinrenaissance nach dem Zweiten Weltkrieg stiller geworden um das Naturrecht, das gegenwärtig der schon von Max Weber registrierten »fortschreitenden Zersetzung und Relativierung aller metajuristischen Axiome überhaupt«,
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... eils "durch den juristischen Rationalismus selbst, teils durch die Skepsis des modernen Intellektualismus im allgemeinen«, anscheinend endgültig zum Opfer gefallen ist: Das Recht, heißt es bei Weber, -ist heute allzu greifbar in der großen Mehrzahl und gerade in yielen prinzipiell besonders wichtigen seiner Bcstimmungen als Produkt und technisches Minel eines Interessenkompromisses enthüllt«, als daß es weiterhin jene Aura überpositiver Legitimität in Anspruch nehmen könnte, die das Naturrecht den großen Rechtssystemen der Vergangenheit verlieh.' Dafür ist in der Politik vom Naturrecht um so mehr die Rede. Naturrecluliche Axiome spielen eine wichtige Rolle in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen den großen Machtblöcken, die beherrschen die Debatten über "Grundwerte« und ,.unveräußerliche Rechte«, sie bestimmen die verfassungspolitischen Konflikte und die wissenschaftlichen Diskurse über »Legitimationskrjsen~ und die ~ Wahrheirsfähigkeit praktischer Fragen« . Revoltierende Minderheiten agieren im Namen eines "Naturrechts auf Widerstand", wie es Herbere Marcuse für die Bürgerrechtsbewegungen der sechziger Jahre reklamierte ' , Tribunale, Lnternationale Konferenzen und Deklarationen über Grund-und Menschenrechte wechseln einander ab, Diktatoren wetteifern in dem Bemühen, sich yon unabhängigen Untersuchungskommissionen ihre Humanität und Liberalität bescheinigen zu lassen. Kaum ein Staat, der heute noch eine Verfassung zu verabschieden wagte, die ihn nicht als wahrhaften und unverbrüchlichen Garanten der Menschenrechte auswiese; kaum ein Präsident, Kanzler, Generalsekretär oder Juntachef, der nicht yon Zeit zu Zeit in flammenden Worten auf GrundrechtsverleIzungen im anderen Land oder Lager verwiese und demgegenüber die eigene Pra.'{is herausstellte: Das Naturrecht ist zum zentralen Ideologem des politischen Tageskampfes geworden, dessen unablässige Beschwörung, wie Erik Wolf bemerkt, z.wiespältige Gefühle weckt: .Ein ,problematisches< " Be; drn folgenden Audührungen handelr es sich um die Zusammenfassung eu.igtr Ged.nken. die ich ausführlich u. melner H.biJi"lionsschcjlt ,Sozi~lgcsclUch" des Naturrechts " (Opladcn '98) entwickel! habt. 1 Manin lUlhcr: Werke. Kritisch. Gesamtausgabe in S8 Bdn .• Weim,r lS8) Ii.. ßd . 16, S. 3Sl . Empfinden von Nichc-zu-Fassendem, das jedem Versuch eindeutiger Bestimmung sich entzieht, jedem Willen zur Einordnung widersteht. «' Auch der Blick in die Geschichte des Naturrechts ist nicht eben dazu geeignet, dieser Ungewißheit und Unsicherheit abzuhelfen . Zweieinhalbtausend Jahre lang lösee im Ohident eine Version des Naturrechts die andere ab. Im Namen des Naturrechts protestierten in der Antike soziale Reformer und Philosophen gegen gesellschaftliche Ungleichheit und die Übermacht der Reichen, kämpfren im Mittelalter Häretiker, Handwerker und Bauern für das logöttliche Recht« und die Rechte des »gemeinen Mannes«, forderten im '7. und 18. Jh . die revolutionären Bürger die Garantie der unteilbaren und unveräußerlichen Menschenrechte. Jedoch war das Narurrecht keineswegs nur, wie Max Weber meint, die »spez.ifische Legitimiütsform der revolutionär geschaffenen Ordnungen ... ! Es wirkte, worauf vor allem Hans Kelsen den Akzent gelegt hat, ebensosehr konservativ, als Ideologie der bestehenden Herrschaftsfonnen par excellence. 6 [m Namen des Naturrechts polemisierte Platon gegen eine Entwicklung, die zur NivelIierung des nach seiner Auffassung naturgegebenen Unterschieds zwischen Herren und Sklaven tendierte, rechtfertigte Cicero die Herrschaft der -summi virtute et animo« über die Schwächeren, deren Wille es schließlich sei, zu gehorchen, und identifizierte die Stoa, wie später auch die christliche Kirche, das natürliche mit dem positiven Recht des status corruptus mit seinen gesellschaftlichen Unterschieden und seiner Sanktionen statuierenden Zwangsordnung. Vom Skl~venhandel bis zum nationalsozialistischen Regime, von der Kastration der Kirchensänger bis zur Kleiderordnung im absolutistischen Wohlfahrtsstaat gibt es keine Form von Herrschaft und Unterdrückung, die nicht naturrechtlich legitimiert worden wäre; und keine revolutionäre Bewegung, die sich nicht selbst als Bannerträger des ,.nariirlichen Rechts~ angepriesen hätte, wie repressiv ihre eigene Praxis auch sein mochte. Die Geschichte des Naturrechts scheint vor allem dies zu lehren: daß die unendlichen Metamorphosen naturrechtlicher Sinnsetzungen sehr viel darüber aussagen, was unterschiedliche Gruppen, Klassen, Individuen zu unterschiedlichen Zeiten für die unwandelbare Natur der Dinge hielten; jedoch so gut wie nichts darüber. worin diese denn nun ~objektiv « besteht. Ernst Topitsch hat daher das Fazit gezogen: "Die Naturrechtslehreo stellen also im wesentlichen Systeme von Zirkelschlüssen und Leenonneln dar, die zur Verteidigung oder Bekämpfung jeder nur denkbaren, bestehenden oder erwünschten Rechts-und Sozialordnung gebraucht werden können und dieser ihrer uneingeschränkten Manipulierbarkeit ihren unbestreitbaren geschichtlichen Erfolg verdanken. «7 Es fällt schwer, sich der suggestiven Kraft dieser Schlußfolgerung zu entziehen; zumal gegenüber den etwas weltfremd anmutenden Versuchen einer ontologischen oder kommunikationsrheoretischen Wiederbelebung des naturrechdichen Normativismus hat die Einsicht in dessen historische und soziale Relativität etwas wohlruend Ernüchterndes. Gleichwohl ist die Neigung des soziologischen Relativismus, Geschichte in eine Folge von Irnümern und Fiktionen zu verwandeln, Anlaß genug, dem Skeptizismus seinerseits mie Skepsis zu begegnen: Der Skeptizismus, so bcmerkt schon Hegel zutreffend, ist »eine Unfahigkeit der Wahrheit, die nur bis zur Gewißheit selbst, aber nichr des Allgemeinen kommen kann, nur im Negativen und im einzelnen Selbstbewußtsein stehenbleibt. a i Enthält nicht das Naturrecht, so wäre 4 Erile. WoH : Du Problem dtr N>lurccchtsichre, Karl,ruhc 1 96~, S. 1.
doi:10.5771/0023-4834-1983-2-127
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