Zum Begriff der kritischen Erkenntnislehre
Richard Hönigswald
1908
Kant-Studien
Die positive Leistung der kritischen Philosophie auf theoretischem Gebiete liegt in dem Beweise von der Identität der Synthesis in analytischen Sätzen und der Verknüpfung von Vorstellungen im Begriff des Gegenstandes der Erfahrung. Sie liegt m. a. W. in der erfahrungsfreien und objektiven, d. h. jeden Relativismus ausschliessenden Bestimmung dieses Begriffes, in der Einsicht, dass das Sein des Erfahrungsobjektes den allgemeinen Bedingungen seiner Erkenntnis unterliegen müsse. Damit ist das
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... ss, in welchem der Relativismusoder, wie man ihn a potiori bezeichnen kann, der "Psychologismus" -als Gegensatz zum kritischen Denken in Betracht kommt, eigentlich umschrieben und der Vertreter der kritischen Erkenntnislehre wenigstens hat keinen Grund der Behauptung eines kürzlich erschienenen Werkes zuzustimmen, dass man schliesslich nicht mehr wisse, wer Psychologist sei, wer nicht, ja dass sich die Grenze zwischen den Richtungen und Methoden der Psychologisten und deren Gegner verwische. 2 ) Im Gegenteil! Je schärfer der kritische Erkenntnistheoretiker die Besonderheit seiner Aufgabe erfasst, umso mehr gilt für ihn, gerade im Hinblick auf sein Verhältnis zur Psychologie, auch heute noch der Kantische Satz: "Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Goswin Uphues, Professor der Philosophie in Halle, Kant und seine Vorgänger. Was wir von ihnen lernen können. Berlin, С. A. Schwetschke & Sohn. 1906. Im folgenden wird das Werk abgekürzt zitiert als: K. u. s. V. ') Dr. Rudolf Eisler, Einführung in die Erkenntnistheorie. Darstellung und Kritik der erkenntnistheoretischen Bichtungen. Leipzig 1907, Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen ineinander laufen lässt." -Wer erkannt hat, dass Psychologie dem Begriffe ihrer Aufgabe nach keinerlei Rechtsgrund, also auch den der apriorischen, aber dennoch gegenständlichen Geltung gewisser Sätze nicht, zu erbringen vermag, der hat zugleich die absolute Selbständigkeit von Aufgabe und Methode der kritischen Erkenntniswissenschaft erfasst und anerkannt. "Das Bedürfnis nach Herstellung des begrifflichen Zusammenhanges der methodisch isolierten Inhalte mit der konkreten, lebendigen Wirklichkeit des Geistes und der Wirksamkeit geistiger Funktionen"mag auch im Erkenntnistheoretiker rege werden. Die Frage aber ist, ob er dieses Bedürfnis im Rahmen seiner Wissenschaft zu befriedigen vermag. Und darauf giebt es nur eine Antwort. Auf dem Boden einer Theorie des Gegenstandes der Erfahrung begegnen also Erkenntniswissenschaft und Psychologie einander nicht. -Wo immer psychologische Gesichtspunkte in den Fortgang erkenntnistheoretischer Erwägungen eingreifen oder doch von der Theorie der Erfahrung nicht grundsätzlich ferngehalten werden, dort hat sich entweder die Grenze zwischen der psychologischen und der erkenntnistheoretischen Fragestellung schon verwischt, oder es hat der Begriff der Erkenntnislehre überhaupt einen von den Gesichtspunkten der Erfahrungstheorie unabhängigen Inhalt bekommen. -Wie sich ein solcher im besonderen gestalten mag, ist unter den Gesichtspunkten einer allgemeinen und grundsätzlichen Untersuchung gleichgültig. Es ist m. a. W. von prinzipiell untergeordneter Bedeutung, ob jener Inhalt sich aus einer Verwechselung der logischen Folgerichtigkeit mit objektiver Geltung herleitet, indem er das Feld der Erkenntnistheorie auf das Gebiet der ersteren beschränkt, 2 ) oder ob er nur den Begriff des Gegenstandes von den spezifischen Gesichtspunkten der Erfahrung zu emanzipieren sucht, um ihm alles dem Geist bewusst Gegenwärtige einzuordnen, oder endlich, ob er sich ausschliesslich auf die Objekte transscendenter Begriffe bezieht. -Jede dieser Möglichkeiten kann immerhin einer "Erkenntnislehre" zugewiesen werden. Aber keine von ihnen berührt sich mit den Problemen der kritischen. Denn keine von ihnen dient einer Theorie des Gegenstandes der Erfahrung. -Der Erkenntniswert der Erfahrung !) Eisler, a. a. O., S. 19. Vgl. Cassirer, Kant und die moderne Mathematik. "Kantstudien" Bd. XII. Brought to you by | INSEAD Authenticated Download Date | 10/18/18 10:54 PM Zum Begriff der kritischen Erkenntnislehre. 411 wird eben bestimmt durch die logische Valenz der Verknüpfung ihrer Wahrnehmungselemente im Begriff des Gegenstandes und kritische Erkenntnislehre ist nur die an dem Erfahrungsproblem orientierte Theorie des Gegenstandes. -Der Erkenntnisbegriff, der sich in einer von den Gesichtspunkten der Erfahrung unabhängigen Theorie des Gegenstandes ausprägt, ist -er mag sonst welchen sachlichen Wert immer haben -auf keinen Fall kritisch, d. h. er berührt das Problem vom Grunde der objektiven Geltung von Wahrnehmungen überhaupt nicht. Er liefert demgemäss für den Erkenntniswert der Erfahrung auch nur einen schlechthin heteronomen Massstab, 1 ) d. i. einen solchen, dessen Bedingungen die Erfahrung ihrem Begriffe nach niemals genügen kann. Und nun gestaltet sich die erkenntnistheoretische Situation in höchst bemerkenswerter Weise: Je mehr jene nichtkritischen Erkenntnislehren sich ihres Gegensatzes zum Relativismus bewusst werden, je mehr sie die Norm der absoluten Objektivität im Eahmen ihrer von der Erfahrung unabhängigen Betrachtungsweise zur Geltung bringen, umso konsequenter sind sie, wenn sie die Erfahrungstheorie dem Relativismus überliefern, umso mehr fördern sie also gegen ihre ursprüngliche Absicht, mittelbar, die Tendenzen des Psychologismus. Ungeachtet ihres primären Rationalismus, ja infolge dieses letzteren finden sie sich denn auch an allen entscheidenden Punkten dem theoretischen Kritizismus gegenüber: der Lehre vom Grunde einer nicht auf Erfahrung beruhenden Geltung gewisser Sätze für Gegenstände der Erfahrung, der Lehre vom Begriff und von der objektiven Berechtigung einer Wissenschaft der Erfahrung. * * Es soll nicht behauptet werden, dass das interessante Werk, dessen theoretische Ausführungen den äusseren Anlass dieser Be-') Dabei kommt natürlich nur die formalistische und die metaphysische Möglichkeit in Betracht, d. h. die Gleichsetzung objektiver Erkenntnis einerseits mit logischer Folgerichtigkeit, andererseits mit transscendenten Seinswerten. Denn nur wo es Aufgaben giebt, giebt es Kriterien und nur wo es von der empirischen Tatsächlichkeit grundsätzlich abweichende Positionen giebt, giebt es Aufgaben. Die "gegenstandstheoretische" Betrachtungsweise nun -sie selbst mag immerhin an solchen Positionen orientiert sein -verdeckt in ihrer grundsätzlichen Verallgemeinerung des Gegenstandsbegriffs den Gegensatz zwischen Tatsachen und Normen. Auch Kriterien sind für sie "Gegenstände". Brought to you by | INSEAD Authenticated Download Date | 10/18/18 10:54 PM R. IIönigswald, trachtungen bilden, von den in ihren Umrissen und Konsequenzen eben skizzierten Gesichtspunkten in schematischer Eindeutigkeit beherrscht ist. Wohl aber ist der Einfluss eines und des anderen dieser Gesichtspunkte auf die Erkenntnislehre seines Verfassers unverkennbar. -Dadurch aber wird dessen ausdrückliche Gegnerschaft zum Psychologismus für den kritischen Erkenntnistheoretiker nur ein neues Motiv für die gründliche Untersuchung seiner Stellung zum kritischen Erfahrungsproblem. Denn Uphues ist von vornherein ein entschiedener Gegner jedes Psychologismus: ausdrücklich erklärt er die Psychologisten, "die aus den Empfindungen die Welt aufbauen zu können glauben", bekämpfen zu wollen. -Aber sein Kampf gilt zugleich einer zweiten Gruppe von Gegnern: den "Formalisten, die neben den Empfindungen noch allgemeingültige Gesetze annehmen, sie aber nur auf die Empfindung angewendet wissen wollen und, abgesehen davon, für nichts halten". 1 ) Ihnen gegenüber verbindet Uphues mit dem Begriff der allgemeinen Geltung die Vorstellung eines berechtigterweise über die Erfahrung hinausgreifenden Gebrauches jener Gesetze. Damit stehen wir vor einer wichtigen These der Uphuesschen Erkenntnislehre, die in ihrer prinzipiellen Bedeutung noch eingehender zu beleuchten sein wird. Hier sei nur eines vorweggenommen: mit der Gleichsetzung der Begriffe einer allgemeinen und einer über die Erfahrung hinausgreifenden Geltung verschwimmen notwendig die Grenzen zwischen Wissenschaft und Metaphysik. Für den kritischen Erkenntnistheoretiker aber heisst dies: die Prinzipien der Erfahrung können nicht mehr nach "Grundsätzen", sondern bloss nach "Maximen" verwendet werden. Auch das kann für den Erfolg des Kampfes, der dem Psychologismus angekündigt ward, nicht gleichgültig sein. Der Relativismus kann nicht endgültig beseitigt werden, solange die Frage nach dem Grade der Wissenschaftlichkeit der Metaphysik grundsätzlich unerledigt bleibt. Allein, nicht nur von solcher Art sind hier die Beziehungen Uphues' zur Metaphysik. Mit klarer Absicht und von vornherein schon stellt er vielmehr seine Untersuchung unter die Herrschaft ihrer Gesichtspunkte: Objekte der Metaphysik sind für ihn Voraussetzungen jeglicher Erkenntnis. In dieser metaphysischen Form gewinnt bei Uphues der antirelativistische Gedanke greifi) K. u. s. V., S. 6. Zum Begriff der kritischen Erkeuntnislehre. 413 bare Gestalt: alle Erkenntnis und Wissenschaft soll im sicheren Grunde der Metaphysik verankert werden. Allein die Aussicht auf eine Verwirklichung seines Planes ist -auch wenn man von jenen eben genannten Konsequenzen seines Ausgangspunktes für eine Theorie der Erfahrung absieht -schlechthin ungewiss, solange der objektive Erkenntniswert der Metaphysik mit Recht bezweifelt werden kann, solange die kritische Lehre vom Begriff der Metaphysik und Wissenschaft, die jenen Erkenntniswert verneint, nicht widerlegt ist. Diese seine Erkenntnismetaphysik, seine Lehre von der metaphysischen Bedeutung aller Erkenntnis also, bestimmt in erster Liniewie sich von selbst versteht -die Haltung Uphues' gegenüber Kant und dem philosophischen Kritizismus. Sie ist zustimmend, wo der Kritizismus sich in ihren Rahmen einzufügen scheint, ablehnend, wo er ihren Konsequenzen widerspricht. -Allein, so sehr auch die Gesichtspunkte jener Erkenntnismetaphysik die Polemik Uphues' gegen die kritische Philosophie beherrschen, so wenig ist doch die Würdigung seiner Einwände mit dem einfachen Hinweise auf jene Gesichtspunkte erschöpft. Diese selbst werden in ihrer erkenntnistheoretischen Bedeutung vielmehr erst dann hinreichend bewertet werden können, wenn einige seiner wichtigsten, nach mannigfachen Richtungen hin ausgreifenden und anregenden Einwände gegen die kritische Philosophie im besonderen untersucht sind. Von selbst ergiebt sich bei der Ausführung dieses Planes eine Rücksichtnahme auf mannigfache Strömungen in der Erkenntnistheorie unserer Zeit überhaupt und im Zusammenhange damit eine neuerliche, an manchen Punkten durch die polemischen Gesichtspunkte vielleicht einigermassen geschärfte Fixierung des Begriffes und der Methoden der kritischen Erkenntnislehre. I.
doi:10.1515/kant-1908-0180
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