Von der Villa zur Stadt: Eine Geschmacksumwandlung im Spiegel der antiken Ekphrasis des 1. – 4. Jhs
Leonid Taruashvili
2009
VILLA ZUR STADT: Eine Geschmacksumwandlung im Spiegel der antiken Ekphrasis des 1. -4. Jhs. Die herrschenden visuellen Geschmackseinstellungen, die im Laufe der sozial-kulturellen Veränderungen gesetzmäßig miteinander wechseln, treten im baukunstgeschichtlichen Zusammenhang auf als ein der hauptsächlichsten form-und stilschaffenden Faktoren, und das macht ihre Berücksichtigung durchaus unentbehrlich für adäquate Beurteilung jedes Zeitalters in der Architekturhistorie. Es versteht sich von
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... , dass jede Berücksichtigung solcher Einstellungen kann ohne sichere Kenntnisse von ihnen nicht auskommen, also muss man damit beginnen, um sie aufzudecken. Aber was kann denn als der Stoff dafür dienen? Denkmäler der Baukunst? Zweifellos. Doch wenn man ausschließlich von ihren visuell erhaltenen Angaben ausgeht, mögen leicht viele verschiedene Missverständnisse aufkommen. Denn die Spuren, die ein bestimmter Kunstgeschmack in einer architektonischen Stilrichtung oder einem einzelnen Bauwerk hinterlässt, erscheinen dem Forscher von andersartigen Merkmalen gar nicht abgesondert. Und mehr noch als das: Sie sind in kompliziertes, konfuses und jedes mal neues System der Zusammenwirkungen von verschiedensten (technischen, ökonomischen, gebrauchs-utilitaristischen) Beschaffenheiten einbezogen und lösen sich in so einem System öfters bis zur Ununterscheidbarkeit auf. Ergo läuft ein Baukunsthistoriker, der sich allein mit visuellen Angaben der Denkmäler beschäftigt, die Gefahr, z.B. Schmucklosigkeit, die bloß durch Mangel an Mitteln bedingt ist, für die beabsichtigte künstlerische Askese zu halten oder eine durch niedrige Festigkeit des zugänglichen Baustoffes hervorgerufene ungewöhnlich große Breite der Stützen als Ausdruck einer dem Künstler eigenen Sehnsucht nach der übermenschlichen, einzelne Persönlichkeit erdrückenden Monumentalität. Darüber hinaus, die in diesem oder jenem Zeitalter der Baukunst herrschenden Formmodelle bilden sich in der Kreuzungszone der wenigstens vier verschiedenen Interessengebiete, nämlich des: 1) technisch erreichbaren, 2) ökonomisch möglichen, 3) utilitaristisch erforderlichen, und (nur daneben) 4) ästhetisch gewünschten. Folglich wird das allein aus dem Gebiet des ästhetisch gewünschten realisiert , was in die Zone, wo die drei andere Gebiete sich kreuzen, gerät, und je enger diese Gebiete sind, auf desto mehrere äußere Hindernisse diese Realisation stoßt. Und obschon Architekturgeschichte wohl einige Fälle des Verzichtes auf jene oder diese funktionelle oder technische Vorteile zugunsten einer bestimmten ästhetischen Wirkung kennt, berührt solch ein Verzicht jenes Minimum nicht, ohne dessen Erfüllung das Gebäude entweder nutzlos wird oder zusammenbricht. Also, wenn ein architektonisch-künstlerisches Ideal in der Praxis verwirklicht ist, zeigt es sich nicht nur in die hartnäckig sich gegen analytische Zerlegung sträubende Einheit eingeschlossen, sondern wird äußerst selten in vollem Maße verwirklicht. Folglich zeigt sich eine nur auf visuelle Baudenkmälerzeugnisse sich stützende wissenschaftliche Rekonstruktion der einst einflussreichen Einstellungen des Architekturgeschmacks äußerst schwierig, wenn überhaupt möglich. Sie ist aber wohl dann zuverlässiger, wenn sie nach einem Stoffe der wesentlich freieren, obwohl freilich unvergleichbar weniger vollständigen als Baudenkmäler selbst Erscheinungsformen, und zwar auf verbale Einschätzungsausdrücke -sei es architektonische Tagträume oder abwertende Urteile über wirkliche Bauwerke -ausgerichtet ist. Zu solchen muss man sicher auch die von der Antike erreichten zahlreichen dichterischen Beschreibungen der Bauten und Baukomplexe (sog. Architekturekphrasis) rechnen. Diese Texte, die klar ausgeprägte Bewertungstendenz kennzeichnet, ermöglichen besseres Verständnis dessen, welche Züge der visuellen Gestalt der
doi:10.11588/propylaeumdok.00000469
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