Europa und die Türkei

Ernst-Wolfgang Böckenförde
unpublished
Die gegenwärtige öffentliche Diskussion über die Frage eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union kann nicht befriedigen. In ihr stehen Positionsnahmen einander gegenüber, die sich wechsel-seitig versteifen, auch polemisch gegeneinander richten, sich aber auf die Probleme in der Sache nur bedingt oder gar nicht einlassen. Das trifft ebenso die These, es gebe zu einem Beitritt der Türkei als Ziel und dem Beginn von Beitrittsverhandlungen aufgrund der bisherigen Entwicklung keine
more » ... e, wie die Gegenthese, ein Beitritt der Türkei und Verhandlungen daraufhin bedeuteten das Ende der Europäischen Union als politischer Union. Beide Positionen machen geltend, die Entscheidung über die Auf-nahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die nun unmittelbar ansteht, sei mehr als eine unverbindliche prozedurale Zwischen-entscheidung, sie habe vielmehr weichenstellende und ein Stück weit irreversible Bedeutung. Es mag sein, daß das so ist. Gerade dann aber erscheint eine intensiv auf die Sache selbst bezogene Diskussion, die jenseits populistischer Versuchbarkeit Argumente vorträgt, prüft und wägt, unerläßlich. Gefordert ist anstelle schneller und vereinfachender Parolen ein nüchternes und klares politisches Denken, das das Handeln leitet, ein politisches Denken im Sinne Hannah Arendts, die ja in gewisser Weise die Schirmherrin dieser Veranstaltung ist. Denken muß man mit Haut und Haaren oder es bleiben lassen, läßt Joachim Fest Hannah Arendt demgegenüber sagen, und sie hat dies in ihren Werken wie in ihrem Leben immer wieder realisiert: ein Denken, gerichtet auf das, was wirklich ist und was als das Richtige erscheint, darin unnachgiebig und konsequent, ein Denken ohne (rückversicherndes) Geländer, um wiederum Hannah Arendt zu zitieren.
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