Ansprache gehalten am 18. III. 1923

Wilhelm Mühsam
1924 Ophthalmologica  
Ein gütiges Geschick hat die Wünsche und Hoffnungen, die Ihnen zum 70. Geburtstage ausgesprochen worden sind, erfü'llt und setzt uns in die angenehme Lage, Ihnen heute zum 80. unsere herzlichen Glückwünsche und unsere aufrichtige Ver-ehrung aufs neue ausdrü'cken zu können. Diese zehn Jahre, die unserem Vaterlande das schwerste gebracht haben, was je einem Volke auferlegt gewesen ist, und die manchen Jüngeren in tatenlose Mutlosigkeit getrieben haben, haben Ihnen kaum etwas anhaben können: In
more » ... perlicher Rü'stig-keit, in geistiger Frische und in seelischer Ausgeglichenheit stehen Sie, der Sie doch mit jeder Faser Ihres Herzens das Leiden des Vaterlandes mitempfinden, uns heute gegenüber. Das verdanken Sie der Erkenntnis, daß seelische Niedergeschlagenheit kaum besser überwunden werden kann als durch Arbeit, und so hat Ihre Schaffensfreude und das Pflichtgefühl Ihrem Werke gegenüber auch im vergangenen Jahrzehnt wieder Leistungen gezeitigt, die nirgends einen Zug von Greisenhaftigkeit erkennen lassen, und die beweisen, daß die geistigen Werte einer Nation selbst dem Vernichtungswillen eines unerbittlichen Siegers standhalten. Als einzig überlebender Assistent des genialen Reformators der Augenheilkunde, dessen liebevoll gezeichnetes Lebensbild wir Hirer, \ron dankbarer Anhänglichkeit geführten Feder verdanken, ragen Sie in unsere Zeit hinein. Sie haben die Loslösung der Augenheilkunde von der Chirurgie miterlebt und haben durch Ihr Wirken die Berechtigung der Selbständigkfeit unseres Sonder-faches erwiesen. In jahrzehntelanger klinischer Tätigkeit haben Sie sich den Dank ungezählter Kranker erworben, denen Ihr diagnostischer Zθitschrift fur Au⅞θnhei⅛unde. Bd. 62. Heft 5/6. 18 270 Ansprache. Scharfblick, Ihre geschickte Hand und Ihre nie erlahmende Sorg-falt Heilung, und denen Ihr warm empfindendes Herz Tröstung brachte. Als Lehrer haben Sie in Ihren Vorlesungen die Studenten gefesselt, in den Ärztekursen Hörer aus aller Herren Lander an-gezogen und in Ihrer "Einführung in die Augenheilkunde" ein Lehrbuch geschaffen, das fast nur auf eigener Beobachtung beruht. Als Forscher haben Sie sich, einer der fruchtbarsten Autoren, auf fast alien Gebieten unseres Faches erfolgreich und zum Teil bahnbrechend betätigt und als Schriftleiter des von Ihnen gegründeten "Zentralblattes für praktische Augenheilkunde" die Errungenschaften unsérer Wissenschaft zum Allgemeingut des ärztlichen Standes zu machen getrachtet. Ihre Veröffentlichun-gen zeugen von genauester Beobachtung, tiefster Gründlichkeit und unbestechlicher Sachlichkeit, die auf keine herrschende Richtung Rücksicht nimmt, sondern nur das selbst fur richtig befundene gibt. Bemerkenswert erscheint es gerade jetzt, wo durch die Hornhautmikroskopie die Beobachtung des vorderen Augenabschnittes ein erhöhtes Interesse
doi:10.1159/000295240 fatcat:lyngdbqbwrdxffgtn2r626giq4