"Selig, die reinen Herzens sind"
Joachim Gnilka
2022
Jemanden selig zu preisen, ist in der Sprache und Literatur der Antike eine verbreitete Sache. Dies gilt in gleicher Weise für das Judentum wie für das Griechentum. Doch ist sehr wohl auf die Unterschiede zu achten. Bei Menander (Fragment 114) lesen wir: »Selig, wer Besitz und Verstand hat.« Jemand wird selig, glücklich gepriesen, weil er über Vorzüge verfügt, die für sein Leben von Bedeutung sind. Die Seligpreisung ruht in sich selbst. Darum wird die Grenze des irdischen Lebens auch nicht
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... chritten. Es schließt sich auch keine Verheißung an. Analoge Seligpreisungen lesen wir im Alten Testament, und hier vor allem in der Weisheitsliteratur und in den Psalmen. Um nur einzelne Beispiele zu nennen: »Selig der Mensch, dem sein eigener Mund keine Vorwürfe macht« (Sir 14,1); »Selig der Mensch, der nachsinnt über die Weisheit, der sich bemüht um Einsicht« (Sir 14,20); »Selig der Gatte einer klugen Frau, und wer nicht gleichsam mit einem Gespann von Ochs und Esel pflügen muß« (Sir 25,8). Auch hier verbleibt die Blickrichtung im irdischen Bereich, wenngleich über Nützlichkeitserwägungen hinausgedacht wird und bei Weisheit und Einsicht eine theologische Komponente festzustel len ist. Einen Schritt weiter führt Ps 41,2: »Selig, wer sich des Schwachen annimmt, zur Zeit des Unheils wird der Herr ihn retten.« Hier tritt nämlich zur Seligpreisung eine Verheißung hinzu. Dies bedeutet: Warum ein solcher Mensch glücklich zu preisen ist, wird sich erst in der Zukunft erweisen. Allerdings bleibt auch hier die Zukunft im Rahmen des irdischen Lebens. Die Zeit des Unheils ist die Zeit irdischer Not. Erst in Verbindung mit der Apokalyptik, erst mit dem Aufbruch eines Glaubens an ein jenseitiges Leben bei Gott, erst mit der Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten, die sich in Israel in den letzten beiden Jahrhunderten v. Chr. ausbreiten und durchsetzen, begegnen wir Seligpreisungen, deren Verheißungen eschatologisch begründet sind. So sagt das Äthiopische Henochbuch 58,2: »Selig seid ihr Gerechten und Auserwählten, denn herrlich wird euer Lohn sein.«1 Damit haben wir den Anknüpfungspunkt für die Seligpreisungen der Bergpredigt erreicht. Die Preisung: »Selig, die reinen Herzens sind, denn sie
doi:10.57975/ikaz.v17i5.4410
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