Menschenrechte und Allgemeinwohl
Ernest L. Fortin
2022
Vor einiger Zeit wurde ein in Singapur lebender amerikanischer Jugend licher dabei ertappt, wie er aus Spaß ein paar Autos mit Farbe besprühte. Er wurde zu der für ein solches »Verbrechen« üblichen Strafe verurteilt: Eine gewisse Anzahl von Schlägen mit dem Stock. Die amerikanische Regierung intervenierte prompt und verlangte, daß die Strafe umgewan delt würde, da eine solch schwere körperliche Züchtigung den »Grund rechten« des Jugendlichen zuwiderlaufe. Um ein Zeichen des guten Wil lens zu
more »
... zen, stimmte das zuständige Gericht in Singapur zwar einer Verringerung der Anzahl der Schläge zu, aber es bestand weiterhin dar auf, die Strafe durchzuführen. Unter Berufung auf Konfuzius hielt es an seinem Beschluß fest und begründete ihn damit, daß der sozialen O rd nung Vorrang vor den Rechten des Einzelnen zukomme. In der amerika nischen Presse wurde dieser Zwischenfall ausführlich kommentiert und als ein »Zusammenprall der Kulturen« von Ost und West gesehen; dem Osten liege eben mehr an der gesellschaftlichen Stabilität, während der Westen eher auf persönliche Freiheit setze. Nun muß man natürlich nicht unbedingt bis nach Singapur reisen, um Beispiele für diese Span nung zwischen den beiden Polen menschlicher Existenz zu finden. Es gibt eine Menge davon auch bei uns zuhause. Trotz der großen Vorzüge, die die moderne, liberale Demokratie be sitzt und für die wir besonders dankbar sein sollten, müssen wir einräu men, daß diese Demokratie von sich aus keine besonders ausgeprägte Neigung zum Allgemeinwohl hervorbringt und das wohl auch von A n fang an nicht ihre Bestimmung sein sollte. Das bedeutet aber, daß sich derjenige, der sich auf die Suche nach geeigneten Vorbildern für Ge meinschaftssinn begibt, nach ihnen anderswo umsehen muß, wie es einstmals auch unsere amerikanischen Vorväter taten, die ihre Vorbilder in der klassischen Antike suchten und deshalb ihre kleinen Siedlungen E r n est F. F o r t in lehrt als Professor fü r Theologie am »Boston College« in Chestnut Hill, Massachusetts. Erika Grün besorgte die Übersetzung des Aufsatzes aus dem Amerikani schen.
doi:10.57975/ikaz.v25i1.4958
fatcat:pjwgvg6ywzfyhhtn7pyecqnn24