Die Rechtfertigung des Fortschritts und der Fortschritt der Rechtfertigung [chapter]

Rainer Forst
2020 Herrschaft des Konkreten  
Die Rechtfertigung des Fortschritts und der Fortschritt der Rechtfertigung 1 1. Der Begriff des Fortschritts ist dialektischer Natur. Einerseits ist er unverzichtbar für alle, die an Prozessen der Emanzipation als der Überwindung sozialer Diskriminierung und Unterdrückung interessiert sind (was ich »moralisch-politischen Fortschritt« nenne), oder für die, die an der Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen, etwa durch medizinischen Fortschritt, arbeiten (was ich »Fortschritt in Bezug auf
more » ... nsbedingungen« nenne). Andererseits denken gerade einige derer, die sich in emanzipatorischen Kämpfen engagieren, dass der Begriff des Fortschritts verabschiedet werden sollte, da er, in den Worten von Ashis Nandy, »einer der schmutzigsten Begriffe unseres Wortschatzes« 2 ist -ein Wort, das soziale und politische Repression allzu oft legitimiert hat, innerhalb und zwischen Gesellschaften. Der Begriff scheint einer universalistischen teleologischen Denkform verhaftet zu sein, der zufolge einige Gesellschaften (oder Gruppen) das Ziel wahrhaft menschlicher Entwicklung früher als andere erreicht haben und daraus die Autorität ableiten, vielleicht sogar die Mission, die weniger Entwickelten aus ihrer »selbst verschuldeten Unmündigkeit«, um Kants Begriff in diesem Kontext zu 1 Ich danke den TeilnehmerInnen der Konferenz »Justification and Emancipation« an der Penn State University im April 2017 für eine ausführliche Diskussion dieses Aufsatzes -besonders Amy Allen und Eduardo Mendieta, die dies ermöglicht haben. Mein Dank geht ebenfalls an die Teilneh-merInnen der Konferenz »Normative Orders in Transition« an der Goethe-Universität Frankfurt im Juni 2017 für ihre Kommentare sowie an Lea Ypi, Felix Kämper und Paul Kindermann für ihre wertvollen Hinweise. Auf dem vierten Krupp Reimers Forschungskolloquium über die »Herrschaft des Konkreten« 2018 konnte ich einen Text diskutieren, der dem vorliegenden in Grundzügen entsprach; für Rückfragen dazu danke ich allen TeilnehmerInnen dieses Kreises, besonders Florian Meinel und Tim Rojek für ihre Kommentare. 2 Ashis Nandy: »Fortschritt«, 53.
doi:10.5771/9783835345171-117 fatcat:2qm5fijm3raatd6frlilhp7444