Rationalität und Plausibilität in klinischen Ethikkomitees. Die Echtzeitlichkeit von Kommunikation als Empirie der Systemtheorie

Katharina W. Mayr
2007 Soziale Welt  
Zusammenfassung: Anstatt nur eine argumentative Lanze für die Empiriefähigkeit der Systemtheorie zu brechen, soll hier anhand von Beobachtungsprotokollen von Sitzungen klinischer Ethikkomitees konkret gezeigt werden, wie die zu interpretierenden Daten selbst eine Welt erzeugen, also selbst nichts anderes sind als Beobachtungen, die sich auf ihren Unterscheidungsgebrauch hin beobachten lassen. Am empirischen Material selbst soll die echtzeitliche Strukturbildung von Kommunikation nachvollziehbar
more » ... gemacht werden, als ein Prozess der Kontingenzeinschränkung, der immer nur als Ergebnis auftritt. So bekommt man in klinischen Ethikkomitees eine Form der Kommunikation in den Blick, die Befindlichkeiten, welche sich als authentisch darstellen lassen, gegenüber organisatorischer oder medizinischer Rationalität favorisiert. Es etabliert sich eine neue Form der Argumentation und die Teilnehmer eines Ethikkomitees lernen, dass in diesem Kontext der Verweis auf organisatorische Hierarchien oder das selbstbewusste medizinische Handeln nicht als Problemlösung fungiert, sondern vielmehr problematisiert und kritisiert werden kann. Was im Krankenhausalltag von Reflexion entlastet, wird hier zur negativen Kontrastfolie für das richtige Verhalten im Umgang mit Patienten und Kollegen. Generiert durch IP '207.241.231.83', am 07.11.2020, 13:45:05. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 324 Katharina W. Mayr Aber findet sich nicht schon in der Behauptung eben dieser Sätze die Bestätigung für den Vorwurf, die Systemtheorie immunisiere sich gegen Empirie durch den Rückgriff auf einen mehr oder minder radikalen Konstruktivismus und die Negation einer beobachtungsunabhängigen Realität? Ist die Konsequenz einer solchen Position nicht die Einsicht in die Unmöglichkeit von Beobachtung schlechthin? In der Tat präsentiert sich die Systemtheorie mitunter selbst im Bewusstsein der Unmöglichkeit, empirische Erkenntnisse durch Beobachtung zu gewinnen, beispielsweise wenn Dirk Baecker die Idee der »Black Box« einsetzt, »mit der Systemtheorie formuliert, dass sie zwar davon ausgeht, dass die Reproduktion gelingt, aber nicht weiß, wie sie gelingt« (Baecker 2002, S. 95). Diese Differenz wird durch wissenschaftliche Beobachtung zu überwinden versucht. »Man muss dann jedoch erkennen, dass man nicht die Box, sondern das eigene Verhältnis zur Box ›aufgeklärt‹ hat, und dass man, recht besehen, keine Möglichkeit hat zu beschreiben, wie das gelungen ist, sondern nur, dass dies gelungen ist. Man befindet sich somit wieder in der Ausgangssituation der Differenz zwischen Faktum und Nichtwissen, hat es jedoch jetzt mit einer zusätzlichen Black Box zu tun, nämlich dem eigenen Erkenntnisvorgang« (Ebd.). Die Unmöglichkeit, sich einer sozialen Realität zu nähern, scheint darin begründet, dass jede Erkenntnis über den Gegenstand sich einem selbsttragenden Blick verdankt und letztlich mehr über den Beobachter als über den Gegenstand verrät. Und während erkenntnistheoretische Reflexionen dieser Paradoxie der Beobachtung eine realitätsadäquate Beschreibung der Welt undenkbar machen, wird gleichzeitig die Welt unentwegt beobachtet und beschrieben. Noch während der soziologische Beobachter sich sträubt, in die »Falle« der Ontologie zu tappen, ontologisiert die Welt fortlaufend sich selbst, indem die Paradoxie praktisch entfaltet wird. Armin Nassehi setzt hierfür den Begriff der »Autoontologie« ein (Nassehi 1992, S.63; 1993, S.227ff.), bei Peter Fuchs ist in diesem Zusammenhang von »fungierenden Ontologien« die Rede (Fuchs 2004, S.11). In Abrede soll nicht die Existenz einer sozialen Realität gestellt werden, vielmehr wirdganz im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung -auf deren Faktizität hingewiesen als eine soziale Realität, die gemacht wird, die operativ hergestellt wird, die dadurch aber nichts an ihrem Realitätscharakter einbüßt. Damit findet sich der soziologische Beobachter in einer Welt vor, die sich fortlaufend selbst beschreibt und deren Beschreibungen dann zum Gegenstand soziologischer Beobachtung gemacht werden können hinsichtlich dessen, wie sie sich selbst ermöglichen. Wie empirisch ist also die Systemtheorie? Angesichts eines praxistheoretischen Zugangs, in dem die Unterscheidung von Empirie und Theorie, Subjekt und Objekt an Eindeutigkeit verliert und verwischt, scheint eigentlich schon die Frage falsch gestellt, findet doch auch Theorie immer schon in einer Praxis statt und wird so selbst zur Empirie, sobald der soziologische Blick darauf gerichtet wird (vgl. Nassehi 2006). Dass vor diesem Hintergrund die Frage danach, wie empirisch die Systemtheorie sei, dennoch sinnvoll gestellt werden kann, wird deutlich, wenn man sie nicht im Hinblick auf eine Antwort versteht, die sich auf dem Kontinuum zwischen »sehr empirisch« und »gar nicht empirisch« bewegt, sondern vielmehr als Frage nach der Art und Weise, in welcher die Empirie zu verstehen ist, die systemtheoretisch zugänglich gemacht werden soll. Was kann man mit einem systemtheoretischen Instrumentarium sichtbar machen? Kommunikation wird daraufhin beobachtet, wie sie Kontingenz unter den Bedingungen der eigenen Möglichkeit einschränkt, und zwar jeweils in Echtzeit. Der empirische Gehalt des theoretischen Instrumentariums Was haben diese Sätze noch mit einem systemtheoretischen Programm zu tun? Systemtheoretische Texte werden üblicherweise über die Verwendung eines systemtheoretischen Begriffsinstrumentariums identifiziert. Man rechnet mit den üblichen Verdächtigen wie »strukturelle Kopplung«, »funktionale Differenzierung«, »binäre Codierung« und schließlich dem Systembegriff. Solche Begrifflichkeiten wirken vor allem auf den nicht systemtheoretisch
doi:10.5771/0038-6073-2007-3-323 fatcat:fvjvxev6q5gv7elctg3twzurwi