Zwei Friederikenlieder

G. Schaaffs
1912 Modern Language Review  
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more » ... JSTOR Terms and Conditions ZWEI FRIEDERIKENLIEDER. I. 'ERWACHE FRIEDERICKE...' IN der neuen Ausgabe des Jungen Goethe 2, 57 hat Morris aus dem ersten der Friederikenlieder drei Strophen herausgeworfen und 6, 155 dies mehr als radikale Verfahren zu rechtfertigen versucht, sich die Griinde, die Th. Maurer in einer in Kleinigkeiten richtigen, im Ganzen misslungenen Arbeitl gegen Goethes Verfasserschaft vorbringt, zu eigen machend. Es soll hier gezeigt werden, wie wenig stichhaltig diese Griinde sind, und dass das Gedicht mit alien seinen sechs Strophen von einem einzigen Verfasser herriihren muss. Maurer und Morris empfinden einen Widerspruch zwischen der zweiten und sechsten Strophe: Hier singe die Nachtigall, dort schweige sie. Abgesehen davon, dass solch ein 'Widerspruch' noch lange nichts gegen die Verfasserschaft ein und desselben Dichters beweisen wtirdeeher das Gegenteil: Derjenige, der ein solch kleines Gedicht in der von Morris angenommenen Weise ausbaut, hutet sich weit mehr vor Widerspriichen als der urspringliche Autor-besteht hier nicht der geringste Widerspruch, und wer einen solchen empfindet, ist eben nicht fahig, Situation und Stimmung des Gedichts voll zu erfassen: Horch Philomelens Kummer Die Nachtigall, im Schlafe Schweigt heute still Hast Du versiiumt: Weil Dich der bise Schlummer So h6re nun zur Strafe Nicht meiden will. Was ich gereimt. Die Nachtigall schlagt fir die Liebenden, und diese lauschen des Nachts ihrem Gesange: Aber meine Liebste, sagt der Dichter, erfreut sich eines derart gesunden Schlafs, dass die Nachtigall das Singen fir diesmal als zwecklos aufgegeben hat! Damit deutet er scherzhaft den Umstand aus, dass sie in diesem Augenblick tatsaichlich schweigt: Es ist ja doch kurz vor Tagesanbruch, wo sie ihr mides Kopfchen zum 1 Die Sesenheimer Lieder, Eine kritische Studie von Dr Th. Maurer (Beitrdge zur Landes-und Volkeskunde von Elsass-Lothringen, xxxII. Heft), Strassburg, 1907. This content downloaded from 188.72.127.68 on Tue, 24 Jun 2014 23:28:58 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions Zwei Friederikenlieder Schlummer senkt. Nachher nimmt er den Scherz natiirlich nicht wieder auf: 'Zur Strafe dafiir, dass du den stissen Gesang der Nachtigall versaiumt, hast du jetzt meine schlechten Verse anzuhoren.' Gewiss hat sie die ganze Nacht iiber gesungen, der Dichter sagt eben nur: 'Wenn du Bose nicht taub gewesen wiirest fur die Nachtigall, dann hatte sie weitergesungen.' Unglaublich ist, was iiber den Umstand, dass die Nachtigall iiberhaupt in dem Gedicht vorkommt, und tiber den Namen 'Philomele geredet wird.' Der eine konstatiert, dass dieser Vogel erst 1774 in Goethes Lieder 'eintrete'; der andere, es hange davon ab, ob an dem Ort, wo sich der Dichter gerade aufhalte, Nachtigallen vorkamen; und der dritte behauptet gar, der Name 'Philomele' erscheine 'sonst nicht' weiter bei Goethe. Wir verlangen in solchen Faillen zu horen, dass und warum eine Abneigung gegen den Namen bestanden habe, und erwarten die Behauptung 'kommt sonst nicht vor' in der praziseren Form: 'Ich habe Goethes samtliche Werke auf den Namen Philomele hin durchgesehen und ihn nirgends gefunden.' Das zu schreiben wird so leicht niemand wagen. Die Wendung 'Und wir er von den Zahen zum Kopf von Eis' soil gleichermassen 'ungoethisch' sein: Wiirde sie damit etwa lenzisch, dass dieser, sich an eine bekannte Virgilische Phrase anlehnend, einmal schreibt: 'Ach wie alles Eiss mir in der Brust war' ? Ist dies letztere auch ungoethisch ? Das Eigenartige waren gerade die Worte 'von den Zahen zum Kopf': Diese mtissten zusammen mit den andern bei Lenz nachgewiesen werden, ehe man den Einwand wenigstens diskutieren konnte. Warum wird neben die Worte (Der Schlaf hat ihn verlassen, doch wacht er nicht' statt der Briefstelle von Lenz, 'Ich wache des Nachts mit schlafenden Augen,' nicht vorher jene beriihmte Wendung aus dem Hohenliede,' Ich schlafe, aber mein Herz wacht,' gehalten ? Und wenn die Wiederholung des Bildes 'Die Nacht, die einer deiner Blicke zum Tage macht' in Dichtuzng und Wahrheit Goethes Verfasserschaft der ersten Strophe beweisen soll, warum dann nicht auch die Wiederholung der Worte 'Der Schlaf hat ihn verlassen, doch wacht er nicht' eben dort dasselbe fir die fuinfte ? Es fehlt einem der Ausdruck wenn man sieht, dass die eine Stelle erwahnt und die drei Zeilen vorher stehende unterdriickt wird: 'Es war ein Zustand, von welchem geschrieben steht: "ich schlafe, aber mein Herz wacht"; die hellen wie die dunkeln Stunden waren einander gleich; das Licht des Tages konnte das Licht der Liebe nicht iiberscheinen, und die Nacht wurde durch den Glanz der Neigung zum hellsten Tage,' Satze, die in einem einzelnen Absatz von sechs 470 This content downloaded from 188.72.127.68 on Tue, 24 Jun 2014 23:28:58 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions G. SCHAAFFS Zeilen Lange zusammenstehen! Und nun vergleiche man die nachsten Absatze: Deutlich erweist es sich, dass Goethe an unser Gedicht gedacht hat! (W. A. 29, 57, 24-59, 2). Und nochmals: Wenn sich das 'blde Licht' des Morgens an einer Stelle der Pandora widerspiegeln soil, warum nicht ein Blatt vorher auch das 'wachende Schlafen' ? Phileros, nur dahin zum bedufteten Garten! Da magst du die Fiille der Liebe dir erwarten, Wenn Eos, die Blode, mit gliihendem Schein Die Teppiche r6thet am heiligen Schrein... Was hilft es, und neiget das Haupt auch sich nieder, Und sinken ohnmachtig ermiidete Glieder; Das Herz es ist munter, es regt sich, es wacht, Es lebt den lebendigsten Tag in der Nacht! 1 Bezeichnenderweise sagen alle Herausgeber: 'Walkers,' der eine schreibt vom andern ab, und keiner sucht das Gedicht einmal selbst auf. 481 31 M. L. R. VII. This content downloaded from 188.72.127.68 on Tue, 24 Jun 2014 23:28:58 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions Zu,wei Friederikenlieder Das Joch der Einsamkeit schlagt meinen Leib darnieder, Dem Nacht und Finsterniss die miide Seite schleusst: Die ungewohnte Streu fiihlt selbst den Schmertz der Glieder, Die ein verborgnes Weh von ihrem Lager reisst.... Schliesslich noch ein paar Verse aus Gleims Gedicht An den Schlaf, auf der Doris Nachttisch gelegt: Dann so lass der Schonen auf mein Flehen, Bald inm Traum doch dessen Bildniss sehen, Der nach ihr schon tausend Seufzer schickt.... Der Anschluss an solche Vorbilder hat hier aber nicht wie so oft zu Inkongruenzen in Goethes Strophen gefuhrt. Auch in den anakreontischen Gedichten sollte das 'Bild' hiufig blass oder bleich erscheinen: doch nur, damit diese Jammergestalt die Schlaferin rtihre und sie endlich Erhorung gewahre. In Giinthers Gedicht dagegen ist das 'entfarbte Angesicht' Ausdruck der Scham und der Reue: Selbst der Aufruhr von dem Blute, Ungetreuer Selimor! Riicket deinem Wanckelnmuthe Den begangnen Meineyd vor. Dein entfiirbtes Angesichte, Das sich vor ihm selber schamt, Zeigt, wie die verbothnen Friichte Dir bereits die Hand gelahmt.... Mutatis mutandis, hat man in unserer ftinften Strophe in dem Errothen und erblassen' die in Scham und Arger wechselnde Stimmung des Dichtenden zu verstehen, dem die Geliebte ihr Wort gebrochen hat (vgl. Vers 9). Aber dies ist nicht die unmittelbare Ursache dazu. Auch die auf das Kolon (Vers 38) folgenden Verse 38 f. bieten diese Ursache nicht direkt, sondern erst einmal den Grund fir denjenigen Umstand, der sie im Gefolge gehabt hat: Zwar ist der Mann wach, aber der Dichter, der volle Gebrauch seiner dichterischen Krafte ist nicht zugleich aufgewacht. 'Ich wache, aber mein Herz schlaft': das Gegenteil des biblischen Worts. Dies Manko, behauptet er, dies nicht vollige Wachsein habe ihm das Reimen schwer gemacht, und das ist der Grund, warum er sich scharnt und argerlich ist, errotet und erbleicht. Wie anders, wenn sie ihr Wort gehalten liatte und bei ihm ware, die 'schonste seiner Musen,' die ihm die Gabe miihelosen poetischen Gestaltens bringt ! Das war es ja doch, was alle Leute am jungen Goethe bestaunten und riihmten. Je veux Muses aux beaux yeux, Muses mignonnes des dieux, D'un vers qui coule sans peine Louanger une fontaine. 482 This content downloaded from 188.72.127.68 on Tue, 24 Jun 2014 23:28:58 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions G. SCHAAFFS Sus donc, Muses aux beaux yeux, Muses mignonnes des dieux, D'un vers qui coule sans peine, Louangeons une fontaine, C'est k vous de me guider, Sans vous je ne puis m'aider, Sans vous, Brunettes, ma lyre Rien de bon ne s9auroit dire, begann Ronsard eine seiner Oden, 'Muses mignonnes!' Und in Hagedorns Gedicht An den verlohrenen Schlaf (4, 105): Mein alter freund, mein schlaf, erscheine wieder ! Wie wiinsch ich dich! Du sohn der nacht, o breite dein gefieder Auch iiber mich; Verlass dafiir den wuchrer, ihn zu strafen, Den trug ergotzt: Hingegen lass den wachen Codrus schlafen, Der immer reimt und immer iibersetzt, ist es zwar nicht so ganz sicher, ob mit dem Codrus der Dichter einen Rivalen-vgl. Vergil, Eclog. 5, 11-oder sich selbst gemeint hatte: aber Goethe wird Selbstironie darin empfunden haben. Auch fir die Voranstellung der Apposition, 'Die schonste meiner Musen, Du schliefst,' zeigt sich hier das Vorbild: 'Mein alter Freund, mein Schlaf, erscheine....' Vgl. auch oben S. 453: 'Die Schmiedin meiner stissen Kette.' Ronsards Sonett begann: 'Mignonne, levez-vous, vous estes paresseuse,' und endete: 'pour vous apprendre a vous lever matin.' In solchen kleinen Rahmen hat auch Goethe sein Gedicht eingeschlossen. Daraus ergibt sich in den letzten beiden Strophen ein etwas ktinstlicher Chiasmus: 35 f. x 47 f., 37 f. x 45 f., 39 f. x 43 f. Sehr hiibsch aber bindet der heitere Gegensatz, der zu 43 f. eingefugt ist-'Was ich gereimt: Die Nachtigall'-den Schluss an den Anfang des Gedichts. Wenn man wie Maurer und Morris empfindet, mag man ein Dutzend Kombinationen mit einer bis sechs Strophen herstellen und an jeder seinen Spass haben: wir andern kennen nur eine Gestalt des Gedichts, die von Goethe selbst ist, und aus der wir nicht einen einzigen Vers abgeben wollen'. Man denke sich doch einmal die Strophen 2, 4, 5 weg. 1 Man wird nicht verlangen, dass ich auf bare Redensarten eingehe (Maurer 25): 'In der Tat (Strr. 1, 3, 6) ein Gedicht, in dem nichts Wesentliches vermisst wird, eln Gedicht, das des apollinischen Dichterjiinglings wiirdig ist. Dieser frische, bei aller Weichheit starke Ton, diese gesunde, hoffnungsfrohe Grundfarbe. Wo (Str. 2) blieb (1) das schlicht-schSne Ethos, das die Goetheschen Verse adelt, der liedartige Charakter des Ganzen? Hier finden wir nervos aufgeregte, iibertreibende Deklamation, rhetorische Mittel, wie Fragen und Ausrufe, und infolgedessen einen zerhackten Rhythmus. Das ist ein vollig anderes Genus von Dichtung. Dort die Verschwisterung mit der Musik, hier mit der Beredsamkeit (!). Es kann kein Zweifel sein: der Abschreiber Lenz ist zu Wort gekommen' u. dergl. Zeugs mehr. 31-2
doi:10.2307/3713173 fatcat:nts4hfvm3vcazbyvphwn6gd6yu