Boltanski oder das Erscheinen des Einzelnen in der Menge Für eine 'ur-dialektische' Perspektive der Politischen Ikonographie
Lutz Hengst
2015
unpublished
So viel vorweg: Was im Besonderen von Martin Warn-kes Hamburger Forschungsinitiativen ausging und sich dort sogar zum jüngsten Jahrtausendwechsel in-stitutionalisieren konnte, der kunsthistorische Unter-suchungsansatz einer Politischen Ikonographie, hat zweifellos außerordentliche Impulse für das Fach ver-mittelt. Nicht allein schon klassisch zu nennende Stu-dien zur bildlichen Repräsentation von Herrschaft tra-gen dessen Handschrift. Auch rezente Auseinander-setzungen mit Bildpolitiken im
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... lter von Fotore-portern, die in den Krisengebieten dieser Erde 'em-bedded' operieren und den visuellen Vorstellungs-raum vielfach von denjenigen mitprägen, die weit hin-ter den Frontlinien Medien konsumieren, können we-nigstens im deutschsprachigen Raum in einer teils recht ausgeprägten Nähe zu jenem Konzept gesehen werden. Zugleich stellt sich keineswegs allein hin-sichtlich einer, mit diesem Heft beabsichtigten Neu-ausrichtung der gleichnamigen kunsttexte-Sektion die Frage, in welchen Momenten eine Konzeption der Politischen Ikonographie womöglich noch über ihre unterdessen gleichsam kanonischen Gegenstandsbe-reiche 1 hinaus produktiv sein kann. Ein Ansatzpunkt könnte sich dabei, so meine Leit-überlegung hier, aus einer regelrechten Umkehrung eines konventionellen Politikbegriffs ergeben, der sich primär über das Wer, Wie und Was dessen definiert, das im öffentlichen, mithin offiziellen, jedenfalls über-greifenden sozialen Raum verhandelt, verregelt und distribuiert wird. In Anlehnung an den gegenläufigen, emanzipatorischen Agitationsruf (der Frauen-und Studentenbewegung um 1970), dass das Persönliche und Private politisch sei, wäre etwa zu hinterfragen, wo sich eigentlich genuiner Machtalltag (als ein we-sentliches Element der Prägung gesellschaftlicher Zu-sammenhänge und-ordnungen) verbildlicht: in der Repräsentation von Herrschenden und, vice versa, je-ner, der Beherrschten, oder aber im Antlitz unauffällig eingefügter Individuen? Ich möchte zunächst versuchen, dies mögliche Desi-derat politisch-ikonographischer Forschung über eine Fußnote aktueller kunsttheoretischer Diskurse zu be-leuchten, bevor ich mit Blick auf wenige Beispiele aus dem Werk Christian Boltanskis etwas anschaulicher und spezifischer argumentieren will. Peter Osborne, der seine 2013 unter dem Titel Anywhere or not at all erschienene Philosophie der Ge-genwartskunst immer wieder in Korrespondenz mit Adornos Ästhetischer Theorie entfaltet, findet an einer Stelle zu folgender Gegenwartskritik: We live in societies of still-increasing individualism , of which neo-liberalism is merely the most recent economic-ideological expression. Yet, in art as in life, absolute individuation destroys meaning. 2 In der Kunst-namentlich bezieht sich Osborne im Kontext, in dem diese (theoretisch wieder an Adorno angelehnte) Aussage steht, auf Robert Smithson-zeigten sich spätestens seit den 1960er Jahren in be-sonderer Weise Orientierungs-und Kategorisierungs-probleme; dies allerdings vor einem weit zurückrei-chenden geistesgeschichtlichen Hintergrund: Insbe-sondere habe die individualisierende Logik der ästhe-tischen Definition des Kunstwerks seit der Frühro-mantik ebendies mit einem strukturellen politischen Status und einer bis heute nachwirkenden Sinnanrei-cherung versehen (die bspw. die Idee bürgerlicher Freiheit enthielte). 3 Der diskursive Hintergrund der vielschichtigen philosophiehistorischen Referenzen Osbornes kann hier nicht so eingeholt werden, dass dessen Gewichtung der Ähnlichkeit frühromantischer Ästhetiken mit spätmoderner Kunstauffassung genau-er nachvollzogen werden könnte. Doch lässt sich so viel sagen, dass nach Osborne eine longue durée in-dividualistischer Ästhetik seit der Zeit um 1800, in der viele Grundlagen moderner Gesellschaftsordnungen in Europa erprobt werden, besteht-und dass diese (auch bei Osborne keineswegs als bruchlos aufge
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