Editorial
Armin Nassehi
2020
Kursbuch
Weil Speis und Trank in dieser Welt doch Leib und Seel' zusammen hält«, heißt es 1690 in dem Singspiel Der irrende Ritter Don Quixotte de la Mancia von Johann Philipp Förtsch -es ist der Ursprung des geflü gelten Wortes, und es enthält fast alles, was man über das Essen sagen kann. Es hält Leib und Seele nicht nur zusammen, es findet sogar ge wissermaßen in zwei Welten statt -in der Welt des Leibes, des Lebens, des Überlebens, der Natur und der Stofflichkeit einerseits, in der Welt der Seele,
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... r Kultur, der Bedeutung und ihrer sozialen Ausprägung andererseits. Essen ist gewissermaßen das Symbol für die unterschied lichen Formen des Stoffwechsels, in der der Mensch steht: im Stoff wechsel mit seiner natürlichen Umwelt einerseits, im Stoffwechsel mit der soziokulturellen Umwelt andererseits. Essen (und Trinken) dient ei nerseits der Selbstreproduktion unseres stofflichen Körpers und ist im mer geprägt von der eher feinstofflichen Ebene seiner sinnhaften Ver wei sungen. Nichts, was gegessen wird, ist nur Nahrung, und alles, was gegessen wird, bedeutet auch etwas. Darin ähnelt das Essen der Sexualität -die auch nicht einfach der Reproduktion der Gattung dient, sondern stets auf besondere Weise soziokulturell aufgeladen ist. Nicht umsonst sind sowohl Sexualität als auch Ernährung ein besonderer Gegenstand aller Weltreligionen -Se xualität und Ernährung stehen gewissermaßen für die Perpetuierung der Schöpfung, im Falle des Essens von Tag zu Tag, im Falle der Sexua lität von Generation zu Generation. Die christliche Vorstellung des peccatum originale, der Erbsünde, wird gewissermaßen durch den Kontrollverlust des Sexuellen von Generation zu Generation weitergegeben, perpetu iert gleichwohl die Schöpfung Gottes und muss deshalb stark eingehegt werden -in einer strengen Sexualmoral und der Sakralisierung der Ehe.
doi:10.5771/0023-5652-2020-204-3
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