Zur frage nach der nosologischen stellung der "Paraphrenien"

Hermann Krueger
1915 Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie  
Unter der Bezeichnung Para phre nie n fal~te Krae peli n letzthin geistige Erkrankungen zusammen, "in denen trotz vielfacher Ankl~nge an die Erscheinungen der Dementia praecox doch wegen der weit geringeren Ausbildung der Gemiits-und Willensst6rungen das innere Gefiige des Seelenlebens erheblich weniger in Mitleidenschaft gezogen wird, oder bei denen wenigstens der Verlust der inneren Einheit sich wesentlich auf gewisse Verstandesleistungen beschr~nkt". Die neue Gruppe ist haupts~chlich auf
more » ... en der Dementia paranoides, wie sie noch in der vorletzten Auflage des Kraepelinschen Lehrbuches umgrenzt wurde, gebildet, jener Form der Dementia praecox, die (im Kraepelinschen Sinne gebraucht) einen recht erheblichen Teil der Schizo-phrenief~lle umfal~te, darunter fast alle diejenigen, die im spi~teren Lebensalter zuerst hervortraten. Die Gruppe der Paraphrenien ist nun yon der Dementia praecox zwar etwas abgeriickt, steht mit ihr aber doch noch in einem yon seiten Kraepelins nicht ganz scharf umschriebenen organischen Zusammenhang, insofern beide Erkrankungsformen zusammen als "endogene VerblSdungen" bezeichnet werden. Weir dicker ist der Trennungsstrich, den Kraepelin zwischen den Paraphrenien einerseits, der echten Paranoia andererseits zieht, die als bei weitem kleinste der wahnbildenden Krankheitsgruppen ihrer genauen Umgrenzung und Beschreibung im neuen Gewande noch harrt. Schon bevor Kraepelin mit der Lehre von den Paraphrenien vor die 0ffentlichkeit trat, begannen die Bestrebungen, den Paranoia-Begriff, der lange Zeit, ohne dab etwa eine allgemeine Ubereinstimmung dariiber erzielt war, aus der Diskussion ziemlich verschwunden war, zu umgrenzen und zu erweitern, natiirlich auch auf Kosten der Dementia praecox ; undes ist zu bemerken, dal~ fast alle neueren Autoren im wesentlichen zu der gleichen Ansicht gelangt sind, der gleichen, zu der auch Kraepelin gekommen ist, insofern, als die Dementia paranoides als eine relativ seltene Erkrankung charakterisiert und der grSBte Teil der bisher yon Kraepelin dazu gerechneten Psychosen mit dauernder H. Krueger: Zur Frage nach der nosologischen Stellung der"Paraphrenien". 457 Wahnbildung von ihr abgetrennt wurde. Auch ich habe versucht, aus dem mir zu Gebote stehenden Material GeistesstSrungen mit dauernden stabilen Wahnbildungen herauszuheben und ihnen die gebfihrende Stellung in der psychiatrisehen Systematik zuzuweisen, indem ich sie zu den eeht paranoischen Erkrankungen rechnete. Einige neue derartige F~lle zu beschreiben und mit der K r a e p e 1 i n sehen Definition der Paraphrenien zu vergleichen, ist der Zweck dieser Arbeit. Von den etwas mehr als 40% aller wahnbildenden Psychosen, die Kraepelin zu den Paraphrenien ziihlt, geh6rt naeh ihm dcr gr6Bte Teil der Paraphrenia systematica an, "gekennzeichnet dureh die iiuSerst schleichende Entwickelung eines stetig fortschreitenden Verfolgungswahnes mit spKter sieh daran ansehlieBenden Gr6Benideen ohne Zerfall der Pers6nlichkeit". Die Krankheit beginnt meist zwisehen dem 20. und 50. Lebensjahre; starke erbliche Belastung scheint nicht vorzuliegen. Naeh schleichender Umwandlung des Wesens der Kranken, die reizbarer, empfindlicher, miBtrauisch, unsicher und gespannt werden, pflegen sich Verfolgungsideen herauszubilden. SinnestKuschungen, besonders solche des Geh6rs, treten nach einiger Zeit auf; Ideen der Willensbeeinflussung werden oft. angegeben. Nach mehr oder minder langem Verlaufe gesellen sich immer Gr61~enideen hinzu, an deren Zusammenhang mit den Verfolgungsideen kaum zu zweifeln ist. Die Auffassung der Kranken bleibt abgesehen yon wahnhaften Umdeutungen dauernd ungest6rt, Krankheitsversts fehlt mit Ausnahme in den ersten Stadien, Ged~chtnis und Merkfs bleiben intakt, nur daf~ wahnhafte Erinnerungsfiilschungen vorkommen k6nnen. Die Stimmung entsprieht den Wahnideen, das Benehmen bleibt geordnet, natfirlich entspreehend den krankhaften Vorstellungen. Die Handlungen der Kranken werden dureh die Wahnideen auf das entscheidendste beeinflui]t, bleiben aber meist durchaus logisch; nur in seltenen Fi~llen kann es auch zu unsinnigen Handlungen kommen. Die Arbeitsf~higkeit bleibt meist lange erhalten, wenngleich sie unter den krankhaften Vorsteltungen leidet. Die Kranken bleiben dauernd gemiitlich lebhaft. Psychisches Siechtum mit fortdauernden Wahnvorstellungen und Sinnest~uschungen ohne selbsti~ndige St6rungen des Willens und ohne gemiitliche Stumpfheit bilden den Ausgang. Mit gewohnter Meisterschaft hat Kraepelin uns ein Krankheitsbild besehrieben, das jeder, der Gelegenheit hat, sich eingehender mit wahnbildenden Psychosen zu beschifftigen, wiederholt gesehen hat. Gleicht auch kein Fall dem anderen, die Grundztige sind bei allen Kranken dieselben, wie sie Kraepelin skizziert. Ein Wort sei nur fiber die erw/~hnten "unsinnigen Handlungen" bereits an dieser Stelle gesagt. Man mul~ mit der Annahme derartiger Handlungen sehr vorsiehtig sein. Was dem aui~erhalb des Wahnes stehenden geistesgesunden Individuum als v611ig sinnlos erscheint, kann fiir den Kranken einen tiefen Sinn H. Krueger: 2 oder 3 Jahre alt gewesen sei, sei sic gelegentlich des Reitunterrichtes nach Hehnstedt entfiihrt worden und dort ihren Pflegeeltern, D.s, iibergeben. Ihre richtigen Eltern h~tten sieh Miihe gegeben, sie wiederzufinden, sie sei aber yon ihren Pflegeeltern verborgen gehalten, die davon sicher groBe pekuniare Vorteile gehabt hatten. Selbst ihren Geburtstag, der in das Jahr 1871 fallen solle, habe man gefMscht: so alt sei sie noch gar nicht. Daf sic nicht Elise D. heife, h~ttten alle Menschen gewuBt; schon auf der Schule hatten die Lehrer gesagt: "Das ist reeht, sag du nur immer, du heifest E. D." Ebenso habe der Pastor mit sonderbarer Betonung gesagt: "So, du bist E. D." Ihre Pflegeeltern beabsichtigten aueh, ihre Heirat mit einem Herrn v. V. zu hintertreiben, der ihr unter verschiedenen Namen iiberall hin folgt. In der Anstalt war sic nur kurze Zeit freier und zufrieden. Bald begann sic aueh hier alle mSgliehen Beziehungen zu finden, die dutch zahlreiche Personenverkennungen genahrt wurden. Daneben bestanden Vergiftungsideen, aueh wieder verbunden mit Geschmackstauschungen: ihr wurde etwas in die Milch getan, der Kaffee war vergiftet, die Milch sehmeckte nach Seife, ebenso SiiBigkeiten, die ihr mitgebracht wurden. Die Sinnestausehungen, die in geringerem Grade schon vor ihrer Anstaltsaufnahme bestanden hatten, nahmen immer mehr zu. Sic hSrt beleidigende Xuferungen: wie yon ihrer Umgebung behauptet wird, sie sei ein Mann, wie der Arzt sagt: Lieschen, du bist ein Schwein usw. Sic hSrt, wie ihr mit "Blutklistieren" gedroht wird. Sic wird naehts am ganzen KSrper, vor allem an den Genitalien, gekniffen, Pflegerinnen kommen nachts in ihr Zimmer, um mit ihr Sexualverkehr zu treiben. Sic fiihlt sieh dutch ihre Bettdecke bedriiekt, schl~tgt auf dieselbe, weil sie glaubt, daf jemand auf derselben salve. Aus dem Gestank merkt sic heraus, daf in ihrem Kaffee "Lustmordpillen" sind. Sie glaubt, das alles geseh~he nur, um sie aus dem Wege zu sehaffen, damit ihre AngehSrigen sic beerben kSnnen.
doi:10.1007/bf02866677 fatcat:jmjp2r6b35g2td6xm7m5sracvu