"Auf meinen Rechtsfall werde doch aufmerksam!" Wie sich die Babylonier und Assyrer vor Unheil schützten, das sich durch ein Vorzeichen angekündigt hatte
Stefan Maul
2011
Die Babylonier und die Assyrer glaubten, in alltäglichen sowie in außerge wöhnlichen Vorkommnissen wie z.B. dem Verhalten von Tieren oder Men schen, an Pflanzen beobachteten auffälligen Erscheinungen, an den Bewegun gen der Sterne und Planeten, an Sonne und Mond wie auch in Wetterphänome nen aller Art Hinweise auf in der Zukunft liegende günstige oder ungünstige Geschehnisse erkennen zu können. In zahlreichen Werken schrieben sie tau sende solcher Vorzeichen nieder und ordneten einem jeden eine
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... Deutung zu. Diese regelrechte 'Zukunftswissenschaft' sollte man nicht als "furchtbaren Aberglauben" brandmarken (vgl. Meissner 1925: 198), denn mit Hilfe der Omenwerke wurde die Zukunft des Einzelnen wie auch die des Gemeinwe sens dem Bereich des Uneinsehbaren, des Unfaßbaren und damit Unplanba ren, kurz den Kräften des Chaos, die die Babylonier wie nichts anderes fürch teten, entrissen. Omina aller Art erlaubten, die Gewißheit des Realen, die für uns nur die Gegenwart besitzt, in die Zukunft auszudehnen. Die psychologi sche Wirkung der Zukunftsdeutung auf alle, die ihr Glauben schenkten, sollte keinesfalls unterschätzt werden: eine diffuse Angst vor der Bedrohung durch eine uneinschätzbare Zukunft, in der alle nur möglichen chaotischen Kräfte wirken könnten, wird im schlimmsten Falle ersetzt durch eine Angst vor einer namentlich bekannten und damit faßbaren Bedrohung. Eine solche Angst aber ist beherrschbar, da sie sich auf ein konkretes und bekanntes, vielleicht sogar auf ein bereits erfahrenes Ereignis bezieht! Das babylonische Weltbild war aber keineswegs so fatalistisch, daß man, wenn einmal ein Vorzeichen erkannt und gedeutet worden war, dem in der Zukunft drohenden Unheil nicht mehr hätte entrinnen können. Ein Vorzei chen zeigte lediglich eine Tendenz an: das zukünftige negative Ereignis -etwa Krankheit, eine Katastrophe, ein Unfall oder der Tod -konnte nur dann ein treten, wenn der Betroffene tatenlos der Dinge harrte. Die babylonische Ge sellschaft, die ein filigranes Bezugssystem zwischen gegenwärtigen, scheinbar nebensächlichen und unwichtigen Ereignissen und der Zukunft entwickelte, fand notgedrungen auch Verfahren, mit deren Hilfe die erkannte Zukunft zu ihren Gunsten beeinflußt werden konnte. Auch wenn solche Verfahren in Me sopotamien im wesentlichen erst in der Zeit des ersten vorchristlichen Jahrtau-131 MDOG 124 • 1992 S. M. Maul sends schriftlich fixiert wurden, darf man wohl davon ausgehen, daß ihre Ursprünge erheblich älter sind. Rituale, die den Zweck verfolgen, ein durch ein Vorzeichen angekündigtes, in der Zukunft liegendendes negatives Ereignis abzuwenden, wurden von den Babyloniern mit dem sumerischen Terminus nam-bür-bi bezeichnet. Nambür-bi bedeutet wörtlich: "(Ritual für) die Lösung davon (d.h. von einem durch ein Vorzeichen angekündigten, aber bislang noch nicht eingetretenen Unheil)". Die bedeutendsten Sammlungen von Namburbi-Tafeln stammen aus den Bibliotheken von Assur, Ninive und Huzinna (Sultantepe). Einige weitere Namburbi-Tafeln wurden in Kalhu (Nimrud) gefunden. Aus neu-und spätbabylonischer Zeit sind Namburbi-Rituale aus Babylon, Sippar, Ur und vor allem aus Uruk bekannt geworden. Zwar wurden Namburbi-Rituale fast ausschließlich in Mesopotamien selbst gefunden, vereinzelte Texte aus Tarsus 1 , Hama 2 und Guzäna (Teil Halaf) 3 zeigen jedoch, daß diese ursprünglich in Babylonien entstandenen Rituale wohl mit der Ausdehnung des neuassyrischen Reiches auch in den ferner liegenden Provinzen außerhalb des eigentlichen Mesopotamien bekannt wurden und zur Anwendung kamen. Die bei den Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft in Assur unter der Leitung von W. Andrae gefundenen Namburbi-Tafeln gehörten fast alle zu der Bibliothek des 'Hauses des Beschwörungspriesters' (vgl. Pedersen 1986:41-76). Diese Bibliothek wurde von einer Beschwörerfamilie (vgl. Hunger 1986: 19) im wesentlichen in der Re gierungszeit Assurbanipals (668-627 v. Chr.) angelegt (Pedersen 1986: 45 mit Anm. 21), auch wenn einige der dort gefundenen Tafeln bereits in mittelassyrischer Zeit und dem späten 8. Jh. v. Chr. geschrieben wurden (vgl. Pedersen 1986: 44). Die älteren Mitglieder der Familie waren als Beschwörer am Assurtempel (MA §.MA § blt Assur) tätig. Unter den 631 Tafeln, die dieser Bibliothek zugewiesen werden können (vgl. Pedersen 1986: 44 und 59-75), sind immerhin 32 Tafeln mit Namburbi-Ritualen. Dieses Textcorpus (vgl. Ebeling 1915-19, 1920-23, 1954ff.; Ebeling/Köcher/Rost 1953), das etwa in der gleichen Zeit geschrieben wurde wie die zahlreichen Namburbi-Tafeln aus den Bibliotheken Assurbanipals in Ninive (vgl. Caplice 1965 ff., 1973,1974), zählt zu den wichtigsten Quellen für unsere Kenntnis von den Löseritualen. Aus den Kolophonen dieser Tafeln geht hervor, daß sie eigens für die Durchführung der jeweiligen Rituale geschrieben wurden. Der klare und Schritt für Schritt logische Aufbau dieser Rituale wird erst dann deutlich, wenn man die Vorstellungen, die die Babylonier von Vorzeichen und 1 Ein Namburbi-Amulett: Götze 1939: 11-16 n8. 2 Ein Ritual gegen Unheil, das von einer Schlange angekündigt wird: La:ss0e 1956:60-67 und PI. XIV. Vgl. die Übersetzung: Caplice 1974: 18, Text 8 und ferner Seux 1976: 352-354. 3 Ein Namburbi-Amulett: Friedrich u. a. 1940: 46 und Taf. 17 nlOO. Vgl. ferner Reiner 1960: 151 mit Anm. 5. 132
doi:10.11588/propylaeumdok.00000834
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