Rekonstruktion alltäglicher Raumkonstruktionen. Eine Schnittstelle von Sozialgeographie und Geschichtswissenschaft? [chapter]

Antje Schlottmann
Ortsgespräche  
Im Zuge konstruktivistischer Wendungen innerhalb der gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen ist nicht nur ein verstärktes Interesse an Raumbezügen aller Art zu verzeichnen, auch die Sensibilität für ›falsche‹ Raumkonzepte ist derzeit hoch. Die Ansicht, dass Raum kein newtonscher Container und diese Vorstellung der heutigen Gesellschaftsform nicht mehr angemessen sei, zeichnet sich bereits als diskursiver common sense ab. Folglich kommen Fragen auf wie die, was genau dieser Raum dann sein
more » ... d wie mit einem nicht-essentiellen Raum wissenschaftlich gearbeitet werden kann -wobei sich heute bei weitem nicht mehr nur die Geographen Kompetenz zuschreiben. Dagegen ist aus konsequent konstruktivistischer Sicht allerdings zunächst die Fragen zu stellen, ob dies die richtigen Fragen sind. Denn kommunikative Orientierungslosigkeit bei der Wende vom essentialistischen Sein zum konstruktivistischen Werden von Raum und Räumlichkeit entsteht vor allem dann, wenn weiterhin in einem ontologischen Sinne gefragt wird. So scheint etwa die Frage, welches Raumkonzept das heutzutage ›adäquate‹ ist, eines der zentralen Probleme der innerund interdisziplinären Verständigung über Raum zu sein. Wenn also im Folgenden ein möglicher Anschluss geschichtswissenschaftlicher Raumzuwendung und handlungszentrierter Sozialgeographie angedacht wird, dann weniger auf der Grundlage einer missionarisch vertretenen neuen Raumontologie, sondern auf der möglicher gemeinsamer Beobachtungszugänge, deren wichtigstes Kriterium Reflexivität ist. Diese Reflexivität bezieht sich zum einen auf das Beteiligtsein des Beobachters an seinem Gegenstand und zum anderen -und daraus folgend -auf die Konstruiertheit der Differenz von Wissenschaft und Alltag. Das Hauptargument Rekonstruktion alltäglicher Raumkonstruktionen | 109 neutralen »Instrumenten« wie Karten und Erdbeschreibungen eine konsti-3 tutive Kraft zuerkennt, inzwischen vollzogen. Schlögel etwa weist darauf hin, dass Räume »nicht nur ›da sind‹, als tote, passive Bühne und Behält-4 nisse«, und plädiert daher für die Überwindung der »spatialen Atro-5 phie«. Coronil spricht von der »Dynamik des Raumes«, die es anzuerkennen gelte, statt ihn weiterhin als unveränderliche Größe für den zeitli-6 chen Fluss zu operationalisieren, und Schenk beklagt die »Weigerung 7 der deutschen Neuzeithistoriker, Geschichte im Raum zu sehen«. Doch Anzeichen für ein solches Rauminteresse abseits vom Containerdenken finden sich auch in begriffsgeschichtlichen Arbeiten, die weniger die Geschichte eines räumlichen Ausschnittes (etwa einer Region), sondern viel-8 mehr deren Bedeutungswandel zum Gegenstand machen. Der verstärkten Hinwendung zum Raum in den Geschichtswissenschaften (spatial turn) korrespondiert eine tendenzielle Abwendung vom Raum in der Humangeographie, die sich heute vielfach als Gesellschafts-9 wissenschaft begreift und die Kultur (wieder-)entdeckt hat (cultural turn). Die Sozialgeographie rückt spätestens seit Beginn der 90er Jahre verstärkt die Repräsentation von Raum ins Zentrum und substituiert den materialistischen »Raum an sich« durch Konzepte raumbezogener Kommunikation 10
doi:10.14361/9783839403129-005 fatcat:geqrrldl5ra25aiv5no3ciptwe