Ueber unsere derzeitigen Anschauungen vom Wesen und der Behandlung der Urämie
H. Strauß
1921
Deutsche Medizinische Wochenschrift
Die Anschauungen über das Wesen und die Behandlung der Urämie haben im Laufe der Zeiten außerordentlich gewechseit. Der Hauptsache nach standen sich aber ganz allgemein zwei Anschauungen gegenüber: eine toxische und eine mechanische. Die erstere rechnete mit einer Reihe von retinierten Substanzen, die letztere sah in einem Gehirnödem die Ursache der Urämie. Auch heute stehen noch bei der Betrachtung des Wesens der Urämie die genannten Gesichtspunkte im Vordergrund. Aflerdings sind unsere Vo
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... lungen übr das Wesen der Urämie durch die neueren Forschungen in präzisere Bahnen als früher gelenkt worden. Dies ist vor allem durch zwei Momente erfolgt: erstens durch eine genauere Erforschung der Retcntionsvorgänge bei Nierenkranken und zweitens durch eine schärfere Fassung des Urämiebegriffs. Nach ersterer Richtung haben sich besonders die Studien über die Retention s.f i c k stoff h alt ¡ge r Stoffwechselschlacken als fruchtbringerid erwiesen, nachdem sich bei vorausgegangenen Untersuchungen gezeigt hatte, daß die Retention der Salze, speziell der Chloride, für die Entstehung der Uräme kium von Bedeutung sein dürfte. Die Ergebnisse 2ßjähriger, an den verschiedensten Stellen ausgeführter Untersuchungen haben hier in vollem Umfang bestätigt, was ich Ende 1901 als Fazit jihreanger Untersuchungen über den Reststickstoffgehalt des Blutes ausgesprochen hatte, nämlich, daß bei urämischen Zuständen fast stets eine außerordentlich starke Erhöhung des Reststickstoffgehaltes im Blutserum anzutreffen ist, Ich hatte diesen Satz mit Absicht in so allgemeiner Form ausgesprochen, weil auch hier die Zahlen nicht als alleinige Indikatoren für die Diagnostik benutzt werden dürfen, ist doch zu berücksichtigen, daß erhöhte Werte für den Reststickstoffgehalt des Blutes gelegentlich auch bei anderen Zuständen -so z. B. in Finalstadien von malignen Tumoren, bei schweren Infektionen, ini präagonalen Zustand usw. -auftreten können und daß die Empfindlichkeit der einzelnen Menschen gegenüber der Giflwirkung der Retenta verschieden groß ist. Außerdem liegen die Dinge bei akuten reparablen Prozessen auch noch insofern anders, wie bei ch r o n is ch e n irreparablen Zuständen, als bei akuten Prozessen unter Umständen auch sehr hohe Werte für den Reststickstoîf des Blutes zurückgehen können. Schließlich spielen -und ich habe hierauf schon von Anfang an hingewiesen -für die vorliegende Frage nicht boß die im Blut vorhandenen Retenta, sondern auch -und vielleicht in noch stärkereni Grade -die in den G e w e b e n zurückgehaltenen Giftstoffe eine große Rolle. Die iieueren Forschungen haben jedoch gezeigt, daß der Reststickstoff im Blut erst bis zu einer gewissen Höhe ansteigen muß, ehe es zu einer pathologischen Anhäufung desselben in den Geweben kommt. Infolgedessen haben Reststic.isto1fbestimmungen im Blut bzw. Blutserum i h r e s e m i o t i s c h e B edeutung in unveränderter Weise behalten, falls sie nur im Zusammenhang mit dem Gesamtbilde des b etr. Fa!-I e s y e r w a n cl t w e r d e n. Was hier vom Reststickstoff gesagt ist, gilt mit gewissen --im ganzen nicht sehr wesenthchen -Modifikationen auch von den -erst später für die Diagnostik und Prognostik verwandten -Zahlenwerten für den Harnstoff, Indikan-und Krcatiningehalt des Blutes. Auch über diese Retenta ist eine grolle Literatur entstanden. Trotz großer in den letzten Jahrzehnten auf die Erforschung der U r s a ch e der Urämie verwandter Arbeit ist es jedoch bis jetzt noch nicht gelungen, einen einzelnen Stoff nachzuweisen, vvelchen man mit Sicherheit als Ursache der Uränile anschuldigen könnte. Wir können z. Zt. nur sagen, daß die Urämie erzeugende Noxe entweder in den hier genannten Stoffen vorhanden sein muß, oder daß sie in bezug auf den Retentionsvorgang denselben Weg zu gehen scheint, wie die genannten Indikatoren. Die Lehre von Urämie erzeugenden Nephrolysinen, wie sie von A s c o I i aufgestellt worden ist, hat der Kritik nicht standgehalten. Das hier Erörterte gilt allerdings nur, soweit es sich um die "e c h t e" Urämie handelt, nicht aber für die "f a I s c h e" Urämie. Für die Auffassung der letzteren sind andere Theorien aufgestellt worden. Schon lange war es Tierexperimentatoren und Nierenchirurgen aufgefallen, daß die Finalzustände nach Nierenexstirpationen und bei chirurgischen Nierenerkrankungen oit ganz andere Bilder liefern, als wir sie in der inneren Medizin bei den sog. "typischen" Fällen von Urämie zu sehen gewohnt waren. Ascoli, Volhard, ich selbst u. a. haben hierauf besonders hingewiesen. Gerade die Reststickstoffbestimmungen haben gezeigt, daß eine ganze Reihe krampflos verlaufender Finalzustände von Nierenerkrankungen in das Kapitel der echten -d. h. mit Reststickstoffvermehrung einhergeheiideii -Urämie bzw. Azotämie einzubeziehen ist, während zahlreiche Fälle von Kranipfurämie mit einer Azotämie nichts zu tun haben. Als Ursache für diese letztere Gruppe von Fällen, die in besonders reiner Form bei typischen Nephrosen zu beobachten sind, hat W i d a I seinerzeit eine Chioridretention und später V o I hard ein Gehirnödem angenommen. Die alte T r a u b e sche Urämietheorie ist damit auf eine bestimmte Gruppe von anazotämischen Fällen beschränkt worden. Fortgesetzte klinische Beobachtungen und klinisch-chemische Untersuchungen haben jedoch ergeben, daß eine scharfe Trennung der beiden hier genannten Störungen nicht immer auf klinischem Wege allein zu treffen ist, weil der ekiamptische Symptomenkomplex auch im Rahmen der echten Urärnie vorkommen kann. Erwägt man außerdem, daß noch eine dritte Gruppe von Fällen, nämlich Fälle von zerebraler Arteriosklerose, urämieähnliche klinische Bilder erzeugen kann, so ergibt sich nicht nur die Notwendigkeit einer scharfen Trennung der einzelnen Fälle für Diagnostik, Prognostik und Therapie, sondern auch das Bedürfnis nach einer exakten Methode zur Unterseheiiung der einzenen pathogenetisch verschiedenartigen Zustände. Wenn auch die kl,ni5che Beobachtung für die Unterscheidung der urämischen und pseudourämischen Vorgänge vieles leisten kann -allerdings weniger auf Grund spezifischer Symptome als in Form der Beurteilung des Gesamtbildes --, so ist doch für die genauere Analyse des einzelnen Falles eine Untersuchung des B I u t e s auf Retenta meist kaum zu umgehen, und zwar namentlich dann, wenn das klinische Bild nicht in ganz besonders klarer Weise ausgesprochen ist. Von den einzelnen Symptomenkomplexen kann man nur ganz im allgemeinen sagen, daß der asthenisch-dyspep ische Komplex bei chronischen Glomeronephri.iien auf echte Urämie, der eklamptische Komplex bei Nephrosen auf Pseudourämie und der soporös-deliriöse Komplex bei Atheroskierotikern auf angiogene Vorgänge im Gehirn hinweist, es läßt sich aber nicht behaupten, daß die genannten Komplexe die erwähnten Entstehungsweisen auch immer haben m üs sen. Die Vielgestaltigkeit der klinischen Aeußerungen der einzelnen Vorgänge sowie die Möglichkeit einer Mischung verschiedener Vorgänge machen von vornherein die rein klinische Unterscheidung der einzelnen Vorgänge recht schwierig. Soweit der Uno in Betracht kommt, ist längerdauernde abnorm niedrige Einstellung des spezifischen Gewichtes -insbesondere bei Oligurieauf echte Urämie verdächtig. Das Gleiche gilt für (len Foetor urioosus der Exhalationsluft und einen etwaigen -allerdings sehr selten vorkommenden -Harnstoffbelag der Haut. Auch die Untersuchung des Augenhintergrundes kann unter Umständen differentialdiagnostisch beachtenswerte Ergebnisse liefern. Fur die Therapie besitzen die vorstehend erörterten Betrachtungen insofern ein praktisches Interesse, als sie es ermöglichen, diejenigen Fäl e, bei welchen antitoxs:he Maßnahmen in den Vordergrund zu stellen sind, von den anderen Fällen zu unterscheiden. Bei den to xi sc h en, d. h. durch Retentionsvorgänge entstandenen Fällen sorgt die Natur oft schon selbst für die Fernhaltung urämieerzeugender Stoffe durch unüberwindliche Anorexie sowie durch Würgen und Erbrechen. In Fällen aber, wo diese Reaktionserscheinungen fehlen, ist für eine erhebliche Reduktion der Eiweißzufuhr -auf ca. 3-5 g N pro die -mit ausreichender oder sogar gesteigerter Flüssigkeitszufuhr zu sorgen, sodaß die Ernährung der I-laeptsache nach aus gezuckerten Fruchtsäften, Obst, Kompotten, Reisspeisen, Breien und nur geringen Mengen von Milch besteht. 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doi:10.1055/s-0028-1140861
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