Das Werk Freuds und das ärztliche Denken des Frühchristentums

Pedro Laín Entralgo
2014
Die bloße Formulierung meines Vortrages wird gewiß die verschiedensten geistigen Reaktionen hervorrufen. Nicht wenige Christen werden darin eine Blasphemie sehen. Ist es zulässig -so werden sie denken -das Werk Freuds, dem die antireligiösen Thesen der Zukunft einer Illusion zueigen sind, neben den Glauben und die Nächstenliebe unserer ersten Märtyrer zu stellen? Andere, objektivere, werden auch die geringsten Zusammenhänge zwischen einer Doktrin, die durch die Behandlung von Neurotikern
more » ... den ist, und den Glauben an die Göttlichkeit Jesu Christi und der Wahrheit seiner Lehre verneinen. Schließlich werden einige in dem Thema einen Versuch sehen, die ersten Dogmen des Christentums psychoanalytisch zu erklären. Ich will im Laufe dieses Vortrages darlegen, daß die Beziehung zwischen dem Werk Freuds und dem frühen Christentum auf eine ganz andere Weise verstanden werden kann und muß. Dazu ist es zunächst notwendig, daß wir -wenn auch nur in kurzen Umrissen -auf die wahre geschichtliche Bedeutung der Psychoanalyse Freuds eingehen. Der historische Sinn des Freudschen Werkes Für einen Historiker, der frei von jedem Dogmatismus für oder gegen Freud ist, kann der Beitrag der Psychoanalyse zur Medizin in fünf Hauptpunkten zusammengefaßt werden: 1. Die Entdeckung der unbedingten Notwendigkeit des Dialoges mit dem Kranken, und zwar der Diagnose und der Behandlung seiner Krankheit wegen. Die Pathologie vor Freud war vorwiegend visuell und taktil; sogar die akustisch vernommenen Data -durch Perkussion und Auskultation -wurden auf sichtbare und tastbare Phänomene bezogen. Seit Freud ist die Pathologie zugleich visuell, taktil und auditiv, also Seins-und Lebensbereichen zugewandt, die zugänglich sind durch das vernommene Wort, durch Verstehen und Auslegung, aber nicht durch eine eidetische Schau. Ein"Komplex"kann gehört, aber nicht gesehen werden. Von hierher wird der grundsätzliche Unterschied der Auffassung Freuds und Charcots die Hysterie betreffend erklärlich. Die Hysterie war für Charcot immer "Hysteria ex visu", auch wenn der große Kliniker sie unter dem Gesichtspunkt des unsichtbaren Mechanismus ihrer Symptome betrachtete. Für Freud war sie dagegen von Anfang an "Hysteria ex auditu". l ) Wiedergabe eines Vortrage, den der Rektor der Universität Madrid in Mönchen hielt.
doi:10.5282/mthz/397 fatcat:zsoegpaytrh77f24rrkl2qqj5q