Gegenwartsfragen pädagogischer Anthropologie

Theoderich Kampmann
2014
Wie die Welt, hat sich der Mensch auf eine beunruhigende Weise verändert. Und wahrscheinlich hängt das eine mit dem andern zusammen. Joachim Bodamer setzt die Kernspaltung in Parallele zur Ichspaltung und rindet, »daß der Mensch kein geschlossenes, in sich zentriertes Ganzes mehr ist, sondern mehr und mehr zum Abdruck seiner Umwelt wird« (Der Mensch ohne Ich, Freiburg/Br. 1958, 77). Der Mensch lebt nicht, sondern wird gelebt, lautet eine These Hans Freyers. »Das einzige, was von ihm verlangt
more » ... d, ist, daß er sich anpasse, möglichst bis in sein Inneres hinein. Es ist also sehr sinnvoll, daß Anpassung zur bevorzugten Kategorie der modernen Soziologie geworden ist« (Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, 227ff.). Wie man weiß, hält Max Picard die innere Zusammenhanglosigkeit für das Hauptmerkmal des Gegenwartsmenschen. Seine Meinung geht dahin, »das Potential der Diskontinuität sei so groß, daß der Mensch andauernd von seinem Zentrum, von Gott, weggerissen wird« (Die Atomisierungder Person, Hamburg 1958, 38). Die pädagogische Anthropologie, seit geraumer Zeit eine Grundwissenschaft der Erziehungslehre, erhält angesichts solcher Menschenverwandlung ihre besondere Aktualität. Auf die Frage »Was ist der Mensch?« wird der christliche Erzieher dieselbe Antwort geben, die vormals Theodor Haecker gab (Leipzig 1933). Doch steht inzwischen nicht das Wesen des Menschen zur Diskussion, sondern die Veränderung seiner geistigen Gestalt und seines seelischen Habitus. Zur Diskussion steht die Frage, wie der Mensch sein Wesen behauptet gegenüber den »sekundären Systemen«, gegenüber der industriellen Massengesellschaft, gegenüber dem anspruchsvollen Zivilisationsapparat und nicht zuletzt gegenüber der andrängenden kosmischen Dimension. Angesichts solcher Frage schrumpfen viele Sorgen, die ehedem die Pädagogik plagten, bis zur Bedeutungslosigkeit zusammen. Während der Endphase des letzten Krieges schrieb Simone Weil, schon vom Tode gezeichnet, jenes Werk, das den Untertitel trägt »Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber«. In seinem ersten Teil werden diejenigen Bedürfnisse ermittelt, »die für das Leben der Seele dem entsprechen, was die Bedürfnisse nach Nahrung, Schlaf und Wärme für das Leben des Körpers sind«, die Bedürfnisse also nach Ordnung und Freiheit, nach Gehorsam und Verantwortung, nach Sicherheit und Wahrheit. Der zweite Teil untersucht Ursachen und Folgen der menschlichen Entwurzelung, zumal der des Bauernstandes und der Arbeiterschaft im zeitgenössischen Frankreich. Der dritte Teil gibt dem Werk seinen Namen: UEnracincment (Paris 1949).
doi:10.5282/mthz/1027 fatcat:saqixc27wjgbjhlh2oo5r2x25m