Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes

Jan Assmann
2016
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrter Herr Staatsminister, meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Johannes Fried, die Ehre, die mir mit diesem Preis erwiesen wird, hat für einen Ägypto logen etwas Überwältigendes 1 . Denn die Ägyptologie ist ein kleines Fach und solche Aufmerksamkeit nicht gewohnt. Ich bin zutiefst dank bar für diese Auszeichnung. Vor allem aber freue ich mich, daß die Ägyptologie aus ihrer Nische herausgeholt und als ein Gebiet der Ge schichtswissenschaft
more » ... kannt wird. Oder, so könnte man es auch aus drücken, daß der Begriff der Geschichte hier einmal so weitherzig ausge dehnt wird, daß er auch die Ägyptologie einbegreift. Diese Weitherzig keit will ich mir im folgenden zunutze machen und über Ägypten, nicht in der "Geschichte", sondern in der "Gedächtnisgeschichte" sprechen. Gedächtnisgeschichte was soll das heißen? "Jede Gesellschaft", schreibt der große mexikanische Schriftsteller Octavio Paz, "wird nicht nur durch ihre Einstellung auf die Zukunft hin, sondern auch gegenüber der Vergangenheit bestimmt: ihre Erinnerungen sind nicht weniger aufschlußreich als ihre Vorhaben." 2 Dieser Satz ver mag das Projekt einer Gedächtnisgeschichte zu umreißen, die der Ge schichte solcher Erinnerungen nachgehen will. Erinnerungen, die über eine Gesellschaft Aufschluß geben, sind von anderer Art als jene "Privatsache", von der Martin Walser in seiner 1 Der Redetext wurde um einige Anmerkungen erweitert, ansonsten aber unverändert bei behalten. Frankfurter Friedenspreis-Rede vom 10.10.98 sprach 3 . Sie äußern sich öffentlich und gehen in die symbolischen Formen der Kultur ein. Aus dem Innen und der Einsamkeit der Köpfe und Herzen drängen sie ins Zwischen der Kommunikation und, wenn sie nur bedeutsam genug sind, in das sichtbare Außen der Symbole, der Texte, Bilder, Riten, Denkmäler und stiften ein kulturelles Gedächtnis, das Jahrhunderte, Jahrtausende überdauern kann. So entsteht der Stoff der Gedächtnisgeschichte. Mit seinem Gewissen, sagt Walser, ist jeder allein 4 . Und nichts sei dem Gewissen fremder als Symbolik. Mit seinem Gedächtnis aber ist nie mand allein, sondern immer Teil eines Ganzen. Je ungeheuerlicher das Erinnerte, desto unvermeidlicher drängt es in die Symbolik und in die Öffentlichkeit. Die Gedächtnisgeschichte von Auschwitz fängt nach Jahrzehnten des Schweigens jetzt überhaupt erst an, und sie wird so bald nicht enden. Denn diese Ereignisse betreffen nicht nur Juden und Deutsche, sondern die ganze Menschheit und stiften aufgrund ihrer Dimensionen ein Menschheitsgedächtnis. Auschwitz wird Teil einer normativen Vergangenheit, aus der künftige Generationen Werte und Orientierungen beziehen. Später wird man dann einmal die Geschichte dieses Gedächtnisses schreiben. Und sie wird Aufschluß geben über die Gesellschaft, in der wir gelebt haben und die wir gewesen sind. Die Vergangenheit, wie sie in den Erinnerungen lebendig ist und im kommunikativen, kollektiven und kulturellen Gedächtnis Form und Ge stalt gewinnt, ist aber auch etwas ganz anderes als die Vergangenheit, wie sie von den Historikern erforscht wird. Es ist unsere Vergangenheit, das, was wir einmal waren. Der Horizont der Geschichtsschreibung reicht so weit zurück, wie es überhaupt Quellen gibt; der Horizont der kulturellen Erinnerung aber reicht nur so weit, wie eine Gesellschaft sich selbst in der Vergangenheit wiederfinden und über sich Rechenschaft geben kann. Goethe bezifferte diesen Erinnerungshorizont auf dreitau send Jahre. 3 Die Rede ist veröffentlicht in: Martin Walser. Erfahrungen beim Verfassen einer Sonn tagsrede (Sonderdruck, Frankfurt 1998); die anschließende Debatte ist analysiert in F. Schirrmacher (Hrsg.), Die WalserBubisDebatte (Frankfurt 1999); G. Wiegel, J. Klotz (Hrsg.), Geistige Brandstiftung? Die WalserBubisDebatte (Köln 1999);/ Rohloff, Ich bin das Volk (Konkret Texte Bd. 21, 1999); vgl. auch A. Assmann, Ute Frevert, Geschichtsver gessenheit, Geschichtsversessenheit. Was kommt nach Scham und Schuld? (Stuttgart 1999). 4 Diese These ist insofern anfechtbar, als gerade das Gewissen, wie wir seit Nietzsche und Freud wissen, der Ort im Ganzen einer Persönlichkeit ist, in den sich die Gesellschaft mit ihren Nonnen und Ansprüchen einschreibt. Wenn der Mensch ..mit seinem Gewissen allein" ist. begegnet er keineswegs seinem innersten Selbst, sondern einer Instanz, die von außen an ihn herantritt, da sie von außen in ihn hineingewachsen ist.
doi:10.11588/propylaeumdok.00002981 fatcat:uirdguuvkrbtnjbintfsb4dtoa