Das Petrusevangelium vom Alten Testament her gelesen : gewinnbringende Lektüre eines nicht-kanonischen Textes vom christlichen Kanon her [article]

Thomas Hieke, Universitaet Tuebingen, Universitaet Tuebingen
2020
Die Textgrundlage der folgenden Untersuchung zum Petrusevangeliums (EvPetr) ist die neue Edition des Textes von T.J. Kraus und T. Nicklas. 1 Dabei wird nur derjenige Papyrus in Betracht gezogen, der den größten Textbestand überliefert, also P.Cair. 10759 (Akhmim-Codex). Auf der Seite des P etrusevangeliums ist daher die Textgrundlage relativ eindeutig, weil nur ein vo rhandener, konkret als Handschrift vorliegender Text verwendet wird. Schwieriger gestaltet sich die Sache auf der Seite des
more » ... textuellen Re sonanzraumes, von dem her das EvPetr gelesen werden soll. Das Thema spricht sehr allgemein vom "Alten Testament", doch diese Aussage muss h insichtlich der Textgrundlage präzisiert werden. Zunächst liegt es von der gemeinsamen Sprache her nahe, die griechische Bibel (für das "Alte Te stament" die Septuaginta) heranzuziehen. Sie ist -wiederum rein prag matisch gesehen -am einfachsten in der Ausgabe von Alfred Rahlfs zu gänglich. 2 Es muss jedoch klar sein, dass diese beliebte Taschenausgabe (" Codex Rahlfs") nicht unmittelbar das abbildet, was Leser der Antike -und ev entuell auch der oder die Verfasser des EvPetr -an "Bibeltext" zur Verfü SUng hatten. Es geht hier aber nicht um die kaum mehr zu beantwortende Fr age, welchen Text der "Bibel" -und ob überhaupt einen -der oder die 1utor(en) oder die Erstleser des EvPetr vor sich hatten. In den folgenden 'Oberlegungen muss die Textgeschichte weitgehend ausgeklammert bleiben. D enno ch ist es für eine leserorientierte intertextuelle Analyse unabdingbar, den T.J. Kraus(f. Nicklas, Das Petrusevangelium und die Petrusapokalypse. Die griechischen Fragm ente mit deutscher und englischer Übersetzung, GCS.NF 11, Neutestamentliche 2 Apokryphen 1, Berlin-New York 2004. A. Rahlfs, Hg., Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes, 2 Bde., Stuttgart 8 1965. 92 Thomas Hieke vorausgesetzten Text zu spezifizieren. Damit auf der Seite des "Alten Testa ments" ein ebenso konkreter Textbestand wie beim EvPetr in Form von P.Cair. 10759 vorliegt, erfolgt eine Beschränkung auf die Septuaginta-Ausgabe von Rahlfs. 3 Mit der genannten Textgrundlage können bestimmte Fragen nicht behandelt werden: So wird hier nicht gefragt, welchen " alttestamentlichen" Text der oder die Autor(en) des EvPetr verwendeten 4 und was er/sie damit machen wollte/n. Sowohl die Intention der historischen Autoren als auch die Gedanken der Erstleser bleiben im Verborgenen; Rückschlüsse darauf sind vielleicht möglich, sind aber hypothetisch. Ferner wird nicht nach einer Geschichte der mit der Passion Jesu verbundenen alttestamentlichen Motive gefragt, etwa nach der Art, welches Motiv wo zum ersten Mal begegnet usw. 5 Statt solcher textgenetischer Fragen wird auf einer leserorientierten und textzentrierten Ebene angesetzt: (1) Welche alttestamentlichen Texte werden bei der Lektüre des EvPetr möglicherweise angestoßen? Genauer: Was kann ein Leser, der die Rahlfs-Septuaginta kennt, im EvPetr entdecken? (2) Welchen Verständnisgewinn oder Verständniszuwachs erreicht man durch das Einspielen dieser alttestamentlichen Texte? Dabei ist "der Leser" nicht ein empirischer (männlicher) Leser des 21. Jahrhunderts, 6 sondern der Versuch, eine im Text (des EvPetr) verankerte Textstrategie zu beschreiben. Der Leser ist ein Modellleser als aus dem Text selbst gewonnene Abstraktion, damit aber auch nur ein Vorschlag möglicher Lektüreweisen. Dieser Vorschlag erhebt weder den Anspruch, Intentionen der historischen Textproduzenten noch Gedankenvorgänge bei möglichen Erst lesern zu beschreiben. Ferner wird nicht der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Spätere empirische Leserinnen und Leser, die besser mit der Septuaginta vertraut sind, können eventuell noch mehr Bezüge entdecken und auswerten. Insofern kann die Aufgabe nicht "abschließend" behandelt werden. Die konkrete Vorgehensweise wird so aussehen, dass eine reflektierende Lektüre am Text des EvPetr entlang geht und den Befund beschreibt: Welche Elemente könnten intertextuelle Beziehungen zum Resonanzraum "Septua ginta" ("Altes Testament") aufweisen? Die Lektüre bleibt aber nicht dab ei stehen, die Bezüge zu notieren, sondern versucht auch eine Auswertung unt er der Fragestellung, wie das Einspielen des "alttestamentlichen Hintergrundes" 3 Eine vertiefende Reflexion der Frage nach dem so genannten "Septuaginta-Kanon" findet sich in T. Hieke/f. Nicklas, "Die Worte der Prophetie dieses Buches". Offenbarung 22,6-21 als Schlussstein der christlichen Bibel Alten und Neuen Testaments gelesen, BThS 62, Neukirchen Vluyn 2003, 113-124. 4 Die großen Schwierigkeiten dieser Frage reflektiert R.E. Brown, Tue Death of the Messiah, From Gethsemane to the Grave 2, ABRL, New York et al. 1993, 1340. 5 Eine solche Motivgeschichte will M. Dibelius, Die alttestamentlichen Motive in der Leidensgeschichte des Petrus-und des Johannes-Evangeliums, in: idem, Botschaft und Geschichte. Erster Band, Tübingen 1953 (Erstveröffentlichung 1918), entwickeln. 6 Daher erfolgt auch keine "inklusive" Sprachregelung mit Leser/in o.ä. Das Petrusevangelium vom Alten Testament her gelesen 93 die Wahrnehmung des Untersuchungstextes "EvPetr" verändert. Abschließend werden die Beobachtungen systematisiert.7 Beschreibung des Befunds EvPetr 1: Das Reinigen der Hände EvPetr 1 zeigt deutlich, dass ein vorausgehender Text verloren ist, denn der "Einstieg" ist kein solcher, sondern setzt eine bestimmte Szene voraus. Ein Leser mit Kenntnis der kanonischen Evangelien denkt an Mt 27,24: Pilatus wäscht sich öffentlich die Hände und deklariert seine Unschuld (vgl. auch EvPetr 46). 8 Vom Unterlassen einer Waschung der Hände ist in den kano nischen Evangelien nicht die Rede. Vom AT her geraten folgende Stellen in den Blick: Ex 30,19-21; Dtn 21,6; Ps 26,6; Ps 73,13. (1) Ex 30,19-21 überliefert die Vorschrift für Aaron und seine Söhne, also für alle Priester, sich vor der Ausübung des priesterlichen Dienstes Hände und Füße zu waschen. Es handelt sich um eine symbolische Waschung zur Heiligung der Priester, die in Kontakt mit den Dingen des Heiligtums kommen. 9 Die Waschung zur Heiligung ist nötig, damit die Grenze zwischen heilig und profan gewahrt bleibt. Daher liegt der Grund für diese Anordnung darin, "damit sie (die Priester) nicht sterben". Eine Unterlassung der Waschung hätte also verheerende Folgen, wäre ein Sakrileg, das entsprechende Ko nsequenzen hat. Trägt man dieses ferne Echo in EvPetr 1 ein, so erhält der Lese r ein subtiles Warnsignal: Auch im EvPetr geht es um ein Sakrileg, das die " J uden" begehen; sie waschen sich die Hände nicht, und die Folgen werden sc hlimm sein. (2) Dtn 21,6 regelt ein Ritual für den Umgang mit einem Ermordeten, der auf freiem Feld aufgefunden wird und dessen Mörder nicht gefasst werden ka nn. Bei diesem Ritual sollen sich die Ältesten der benachbarten Stadt unter an derem die Hände waschen -auch hier liegt ein Symbol dafür vor, dass das Blut des Ermordeten, also die Schuld an dieser Tat, nicht bei der nahen Stadt lie gt, die Ältesten und die Einwohner der Stadt frei von Schuld sind (Dtn 21,7-8). Der Umkehrschluss heißt dann aber, dass bei Unterbleiben des Rituals und der Händewaschung das vergossene Blut eine entsprechende Schuld mit sich 7 Die Methodik ähnelt damit der Vorgehensweise in Hieke/Nicklas, Worte der Prophetie. Diese Art des Herangehens hat sich insgesamt bewährt. Im genannten Werk findet sich auch eine ausführliche Reflexion und Begründung der Methodik, so dass sich hier weitere Ausführungen 8 dazu erübrigen. Vgl. dazu J. Denker, Die theologiegeschichtliche Stellung des Petrusevangeliums. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des Doketismus, EHS.T XXIIl.36, Bern-Frankfurt am Main 1975, 58. 9 Vgl. C. Dohmen, Exodus 19-40, HThKAT, Freiburg et al. 2004, 276-277. 10 EvPetr 5; 15 sprechen deutlich von einem "Ermordeten", d.h. diese Wendungen mach en deutlich, dass das EvPetr die Kreuzigung Jesu als Mord ansieht (s.u.). 11 Vgl. dazu auch H. Koester, Ancient Christian Gospels. Their History and Developm ent , Philadelphia-London 1990, 221-222. 12 Vgl. Brown, Death, 1339. 13 Denker, Stellung, 60-61, spricht von einem besonderen Interesse des EvPetr an Dtn 21,22-23 i rn Gegensatz zu den kanonischen Evangelien, in denen diese Stelle keine Rolle spielt. Dara us zieht Denker den weit reichenden Schluss, das EvPetr habe von den kanonischen Evangelien keine Notiz genommen und nur das AT und die Gemeindetradition als Quellen. 14 Vgl. T. Hieke, Das Alte Testament und die Todesstrafe, Bib, 85, 2004, 349-374, hier 363. Das Petrusevangelium vom Alten Testament her gelesen 95 jüdischen Tradition wird dieses Gebot durch einen Qal wa-Chomer-Schluss auf jede gestorbene Person ausgeweitet: Wenn dies für einen Kriminellen gilt, um wie viel mehr dann für andere (vgl. bSanh 46a.b). 1 5 Heißt es aber in Dtn 21,23 ouK E1TLKOLµT]0�aerovrnµEv�. Eine wörtliche Anspielung liegt also nicht vor, wohl aber eine sinngemäße Umformulierung, die vor allem zu EvPetr 15 (Finsternis als Sonnenuntergang) passt. In EvPetr 3-5 steht die Erwähnung des Bestattungsgebots noch am selben Tag im Kontext der Bestattungsbitte durch Josef, der aus den synoptischen Evangelien als "Josef aus Arimathäa" bekannt ist (Mt 27,57-61; Mk 15,42-47; Lk 23,50-56; Joh 19,38-42). Herodes erscheint hier als "gesetzesfürchtig", da er die Leiche auch dann begraben hätte, wenn Josef nicht darum gebeten hätte. In EvPetr 15 entsteht wegen der Dunkelheit am Mittag unter den Juden die Furcht, die Sonne sei bereits untergegangen, so dass die Gefahr entstünde, man könnte gegen das (umformulierte) Gebot aus Dtn 21,22-23 verstoßen. 1 6 Der wichtigste Unterschied zwischen Dtn 21,22-23 und EvPetr 5; 15 besteht wohl darin, dass aus dem, der aufgrund eines Kapitalverbrechens hingerichtet wird (Dtn 21,22: EaV 6E YEVTJ't!X.L EV 'tLVL aµa.p,(a. Kp(µa. 0a.v«hou), im EvPetr ein " Ermordeter" (E1TL TIEcj>ovrnµEv�) wird. Durch diese Abweichung vom alttestamentlichen Hintergrund wird der Leser gewahr, dass das EvPetr die Kreuzigung Jesu ziemlich unverblümt nicht als "Hinrichtung", sondern als E rmordung versteht. Dies gilt in jedem Fall, auch wenn umstritten ist, ob in EvPetr 5 der Schriftbezug noch Herodes-Rede sein soll oder bereits Kommentar. 17 Wenn der Satz noch zur Rede des Herodes gehört, dann gibt Herodes expressis verbis zu, dass es sich bei der Kreuzigung um eine Ermordung handelt. Der Terminus "Ermordeter" (m: cj>ovEuµEvo<;) ruft u.a. den Satz aus den Zehn Geboten wach: "Du sollst nicht morden" (ou cj>ovEuarn;; Ex 20,13; Dtn 5,18; Mt 5,21; 19,18; Röm 13,9). Erneut dient der Bezug des EvPetr auf die Heilige Schrift Israels dazu, das Tun des Herodes als Verstoß gegen die Zehn Gebote und damit als große S ünde darzustellen. Um die Aufmerksamkeit dafür zu wecken, wird bei einem e xpliziten Verweis auf das im Gesetz Geschriebene ein an der angespielten St elle nicht verwendetes Wort (ovEuw, "[er]morden"), das selbst wiederum die Zehn Gebote auf den Plan ruft, eingesetzt. Einern Leser, der die entsprechenden Verknüpfungen herstellt, drängt sich der antijüdische Schluss auf: Die Juden haben den Herrn ermordet. 15 Kreuzigung und der Befürchtung, gegen Dtn 21,22-23 zu verstoßen, ist kaum anders denn als anti jüdische Polemik aufzufassen: " Die Juden" erscheinen als blind gegenüber ihren gravierenden Verstößen gegen die Weisung Gottes, die durch die Finsternis geradezu sichtbar vor Augen geführt werden. EvPetr 16: Galle und Essig Dass dem zu Kreuzigenden bzw. dem Gekreuzigten ein Mischgetränk angeboten wird, ist ein verbreitetes Motiv in den Passionserzählungen der Evangelien, ebenso der Bezug auf Ps 69[68],22. Der Befund ist vielfältig, daher ist eine Übersicht hilfreich: 38 Ps 69[68],22: Mt 27,34: Mk 15,23 : Mt 27,48: Mk 15,36: Lk 23,36: Joh 19,28-30: EvP etr 16-17: KO:L EÖWKO:V Etc; 'tO ßpwµa µou XOAT)V KO:L Elc; .�v ÖL.\t,av µou E1r6naav µE Ofoc;; EÖWKO:V o:lm\l 1TLELV oivov µrnr. x0Af1c;; µEµLyµEvov· KO:L yEooaµEvoc; ouK �0EAt,aEV 1TLELV. Ko:1. MUiouv o:u-r4i foµupvwµEvov oivov· Öc; & ouK EAo:ßEv KO:L Eu0Ewc; öpo:µwv Etc; E� CXU'tWV KO:L Ao:ßwV a1r6yyov 1T A1l(JO:c; 'tE O�ouc;; KCXL 1TEpL0Et.c; Ko:Mµ� E1TO'tL(EV cxu-r6v. öpcxµwv M nc; [Kat.) yEµi.acxc; a,r6yyov O�ouc;; 1TEpL0Et.c; Ko:Mµ� E1T O'tl(EV O:U'tOV ... EVE1TO:L�CXV & o:u'tQ KO:L ol O'tpO:'tLW'tCXL ,rpooEpX,oµEVOL, Ofoc;; 1rpooEpovnc; o:u-rQ Mrnx wDw ELÖwc; 0 111a0Dc; on �Ö'll 1TIXV't0: 'tE'tEAEO'tCXL, i'.vcx ' e-J.. ,h ' ' ' ö S:. , .",�. 29 -., xi: ..... r ' 'tEAELW U 'I YP0: '1' 11, 11.EYEL" � OKEuoc;; EKEL'tO � µEa'tov· a1r 6yyov oov µEa-rov -rou &ouc; Uaaw,r� 1TEpL0EV-rEc; 1rpoa�vEyKo:v O:IJ'tOU •4> O'tOµo:n 30 O'tE oov EAo:ßEV � [o) 'l11aouc; EL1TEV" tE'tEAEOtO:L, KO:L KHvo:c; t�v KEo:i..�v ,ro:pEf>O:AT)c; O:U'tWV 't<X ocµo:p.�µo:.cx. Die Besonderheiten lassen sich jeweils knapp andeuten: Bei Mt und Mk bege gnen zwei "Getränke". Im ersten Fall handelt es sich um ein betäubendes Geträ nk vor der Kreuzigung -Mt ersetzt vermutlich unter Rück b ezug auf Ps 68,2 2 die Myrrhe des Mk durch Galle (x_oA�)-Im zweiten Fall begegnet der Essig ( � o c;) , das allen Stellen gemeinsame Element, das auf Ps 68,22 hinweist. Nur bei Joh wird der Bezug zum Psalm als Schrifthinweis ausdrücklich erwähnt bzw. sogar als "Erfüllung der Schrift" hingestellt. Doch bei Joh fehlt die Galle. Die 38 Vgl. auch Koester, Ancient Christian Gospels, 229. 45 So vermutet es Dibelius, Motive, 242. Zu weiteren Deutungsmöglichkeiten vgl. Mara, Vang elo di Pietro, 71. 4 6 Vgl. Denker, Stellung, 74. 118; Head, Christology, 214. 47 Ein ähnliches Interesse hat wohl Lk 23,46, da dort das Psalmzitat aus Mk durch einen ander en Psalm (Ps 31[30],6) ersetzt ist. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Vaganay, L'Evangile de Pierre, 256; Mara, Evangile de Pierre, 135; Denker, Stellung, 119. 4 8 Vgl. hierzu auch den Beitrag von M. Myllykoski im vorliegenden Band. 49 Mara, Vangelo di Pietro, 71.
doi:10.15496/publikation-39933 fatcat:nry5td5nxvbqdlzk7p7bexvqyi