Mit anderen sein. Subjektive Rechte und die Sackgassen liberalen Denkens
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Sabine Hark
2021
Politik im Rechtsstaat
Mit anderen sein. Subjektive Rechte und die Sackgassen liberalen Denkens Zwischen den Anfängen dieses Aufsatzes und den letzten Korrekturen an ihm liegen rund zwei Jahre. Die Zeit der Sars-CoV-2-Pandemie. Eine Zeit, in der wir lernen konnten, was es bedeutet, von der Verwundbarkeit der anderen und nicht der eigenen ausgehend zu denken und zu handeln. Dass Distanz halten eine Weise des Füreinander-Daseins sein kann beispielsweise. Die Corona-Pandemie bietet damit noch immer eine Chance -und ohne
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... die Augen zu verschließen vor weltweit rund 190 Millionen registrierter Infektionen und 4 Millionen Toten, weder vor der noch immer für viele Menschen akuten Gefahr, vor Krankheit und Leid, noch vor den sich abzeichnenden und für Demokratie, Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Kultur womöglich desaströsen Folgen. Sie hat uns nämlich nicht nur erfahren lassen, dass wir alle verletzlich, wir immer schon in der Hand der anderen sind und genau dies die prekäre Bedingung des Lebens ist. Sie erinnert uns auch daran, dass in einem von vielfältigen Achsen der Dominanz durchzogenen und von eklatanter Ungleichheit geprägten weltgesellschaftlichen Kontext diese Prekarität ungleich verteilt ist. Der Zugang zu sauberem Wasser, zur Möglichkeit, Abstand zu halten, zu medizinischer Versorgung, zu Impfstoff entscheidet, wer überlebt. Sars-CoV-2 hat uns freilich keine neue Welt beschert, es zeigt uns die Welt nur deutlicher, wie sie ist: eine Welt, in der die Rahmen der Anerkennbarkeit, wessen Leben zählt, beständig verengt und die Kluft zwischen Anteilslosen und Anspruchsberechtigten stetig vertieft wurde. Eine Welt, die mehr denn je von Vernachlässigung und Verunsicherung, Ausgrenzung und Entwürdigung, Hass und Verletzung, Gewalt und Terror, Ausbeutung und Herrschaft geprägt ist. Eine Welt zudem, in der sich, wie uns der Umgang mit Geflüchteten und Migrant*innen in den Lagern auf den Inseln der Ägäis tagtäglich vor Augen führt, Kontrolle und Sorge, polizeiliche Aktion und humanitäre Akte der Unterstützung auf beunruhigende und oft ununterscheidbare Weise angenähert haben, so dass jene migrantischen Leben, denen oft genug nur die "perverse Alternative von Fliehen oder Zugrundegehen" 1 bleibt, an genau die Grenze des Lebens verbannt scheinen, der sie doch gerade entkommen wollten. Die Pandemie verlangt daher von uns nicht nur, dass wir solche Zusammenhänge analysieren, sie verlangt auch, dass wir gesellschaftliche Solidarität neu zu buchsta-
doi:10.5771/9783845299938-83
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