Wort und Welt. Konstruktivismus und Realismus in der Sprachtheorie
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Andreas Gardt, Ekkehard Felder, Andreas Gardt
2018
Wirklichkeit oder Konstruktion?
Unter Konstruktivismus -in seiner auf Sprache bezogenen Form -sei im Folgenden die Auffassung von der sprachlichen Gebundenheit des Weltzugangs und der wirklichkeitskonstituierenden Kraft der Sprache verstanden.1 Danach bezeichnen Wörter und Sätze nicht die Dinge an sich, sondern tun dies immer aus einer bestimmten Perspektive. Diese Perspektive ist nicht nur die des individuellen Sprechers, sondern ist auch der Sprache bereits inhärent: Wir eignen uns die Welt entlang der lexikalischen
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... en und grammatischen Strukturen an, die wir in der Sprache vorfinden und die wir neu in ihr schaffen. Indem Sprache die Dinge der Welt nicht einfach passiv abbildet, sondern unseren geistigen Zugang zu ihnen leitet, prägt sie unser Bild von der Wirklichkeit. In der Trias von Sprache, Denken und Wirklichkeit kommt damit der Sprache das Apriori zu. Je nach Radikalität des linguistischen Konstruktivismus wird diese sprachliche Prägung des Wirklichkeitsbildes als partiell oder als absolut verstanden. Im letzteren Fall ist ein Denken 'an der Sprache vorbei', ein sprachfreies Erkennen der Welt, nicht möglich. Dabei scheint sich die lexikalische Dimension der Sprache in besonderer Weise zu konstruktivistischen Argumentationen anzubieten, weil Wörter aufgrund ihrer semantischen Eigenschaften sehr leicht zu Sachverhalten in Bezug gesetzt werden können. Dass mit der Wahl eines Ausdrucks wie Verteidigungsminister die Wirklichkeit als etwas sehr anderes präsentiert wird als durch den Ausdruck Kriegsminister, wie er noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich war, ist offensichtlich.2 Wenn eine sprachfreie Erkenntnis der Wirklichkeit unmöglich ist, dann lässt sich, etwas pointiert, sagen, dass die Sprache mit dem für uns einzig verfügbaren 1 Der Beitrag resümiert Überlegungen des Verfassers zu diesem Thema (erstmals umfassend 1994 und 1999, zuletzt Felder/Gardt 2015, Gardt 2017 und Gardt 2018) und führt sie weiter. 2 Ein aktuelleres Beispiel ist die Alternative von Freisetzung (von Arbeitskräften) und Entlassung. Freisetzung war 1994 einer der Kandidaten bei der Wahl zum "Unwort des Jahres" [http://www. unwortdesjahres.net/index.php?id=33]. Unauthenticated Download Date | 2/26/20 9:11 AM 3 Die Beschränkung auf die Sprache als Faktor der Wirklichkeitskonstruktion ist der Fragestellung dieses Beitrags geschuldet, tatsächlich spielen die unterschiedlichsten Faktoren eine Rolle. Die Sprachwissenschaft bezieht zunehmend multimodale Aspekte ein, darunter vor allem Text-Bild-Kombinationen, aber keineswegs nur diese (s. z. B. Klug 2016; Klug/Stöckl 2016). 4 Sie erscheinen nicht als Zitate, weil sie orthographisch und flexionsmorphologisch angeglichen wurden, ansonsten sind sie unverändert.
doi:10.1515/9783110563436-001
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