Entscheiden unter Unsicherheiten

Maximilian Steinbeis, Fachinformationsdienst Für Internationale Und Interdisziplinäre Rechtsforschung
2021 Verfassungsblog  
Einen gut funktionierenden Verfassungsstaat erkennt man darin, dass man in ihm verlieren kann. Man kann Prozesse verlieren. Man kann Abstimmungen verlieren. Das kann einem widerfahren, ohne dass man deswegen gleich einen Aufstand zu machen bräuchte. Man muss keinen Aufstand machen, weil Menschen-und Minderheitenrechte einen vor dem Gröbsten bewahren. Man darf keinen Aufstand machen, weil der institutionelle und prozedurale Rahmen, in dem einem die Niederlage zugefügt wird, per se erst mal
more » ... ein als fair akzeptiert ist. Man hat verloren, ja. Aber das ist in Ordnung. Wo dies die erwartbare Reaktion auf Niederlagen justizieller oder politischer Art ist, da kann man im Wesentlichen sagen: die Verfassung ist in Ordnung. An Beispielen, wo dies nicht (mehr) der Fall ist, herrscht ringsum kein Mangel. Es ist das Kennzeichen des autoritären Populismus, sich gegen die Möglichkeit der eigenen Niederlage dadurch zu immunisieren, dass man sie zu einem Zeichen dafür umdeutet, dass in der Tat mit der Ordnung selbst etwas nicht in Ordnung ist. Das ist es, womit die PiS-Regierung in Polen, die Trump-Bewegung in den USA und die Querdenker/AfD in Deutschland ihre Politik machen, und das ist das inhärent Verfassungsfeindliche an ihnen allen. Vor diesem Hintergrund kann ich bis zu einem gewissen Punkt schon verstehen, dass sich das Bundesverfassungsgericht so wahnsinnig schwer tut mit der "Bundesnotbremse" in der Corona-Pandemie. Was ich dagegen nicht verstehen kann, ist, dass es seine ohnehin schon prekäre Situation ohne erkennbare Not noch prekärer macht.
doi:10.17176/20211023-062808-0 fatcat:boyjw3lafbco7orn2w3idimzma