Bemerkungen zu der Beurtheilung und Behandlung von Verletzungsfolgen vom Gesichtspunkte der Unfallversicherung, sowie zum Capitel der Simulation1)

Carl Lauenstein
1892 Deutsche Medizinische Wochenschrift  
Oberarzt des Seemannskrankenhauses und ding. Arzt der chirurg. Abtheilung des Diakonissenhauses Bethesda zu Hamburg. Trotzdem das Reichsunfallversicherungsgesetz bereits über sechs Jahre in Kraft steht, trotzdem wir alle durch unsere Thätigkeit in mehr oder weniger naher Beziehung zu demselben stehen, ist doch bisher so gut wie kaum dies Thema hier verhandelt worden. Da ich nun im Seemanuskrankenhause vielfach Unfaliverletzte zu untersuchen und zu behandeln habe, auch sonst oft in die Lage
more » ... , Schiedsgerichtsfälle zu begutachteu, so wollte ich Ihnen einiges von unseren Erfahrungen mittheilen. Die angekiindigten Bemerkungen schliessen sich an einige, bereits vorgestellte Fälle an, welche nicht besonders ausgewählt sind, sondern welche ich gerade im Augenblick zu beurtheilen hatte. Beziehen meine Bemerkungen sich auch zunächst auf diese Fälle, so sind sie doch auch von mehr allgemeiner Bedeutung. Ich muss nur im voraus um Entschuldigung bitten, wenn ich hier Dinge vorbringe, mit denen wahrscheinlich Sie alle sich beschäftigt und über die Sie alle ebensogut nachgedacht haben, wie ich. Doch wird vielleicht die Verschiedenheit des von uns beobachteten Materials es bedingen, dass das eine oder andere meiner Ausführungen Ihr Interesse erregt. Fall 1 betrifft einen 39jãhrigen Arbeiter, welcher vom 12. September bis zum 28. October 1890 im Seemannskrankenbause wegen Verletzungen, die ihm durch einen Betriebsunfall zugefiigt waren, behandelt worden war. Eine sehr schwere Last war auf ihn gefallen; dazu war ein Wagenrad über seinen rechten Arm gegangen. Neben einer Reihe von Quetschungen an Rumpf und Extremitäten fand sich bei der Aufnahme eine schwere cornplicirte Verrenkung des rechten Ellenbogengelenks. Ausser weitgehenden Weichtheilverletzungen, Zerreissung der Kapsel und Bandapparate, bestand eine Schrägfractur am Condylus internus humeri. Die Gelenkenden waren an einander verschoben, und ihre Verbindung derartig gelockert, dass, um der Bildung eines Schiottergelenlis vorzubeugen, das Radiusköpfchen durch eine Drahtnaht an dem Processus cubitalis befestigt wurde. Ausserdem war durch den Unfall ein linksseitiger äusserer Leistenbruch entstanden. Bei der Entlassung aus dem Hospitale, welche auf den Wunsch des Verletzten vor völlig beendeter Heilung der Weichtheilverletzungen erfolgte, stand der Vorderarm rechtwinklig in dem, gute Festigkeit zeigenden Ellenbogengelenk. Die Drahtnaht war reactionslos in den Ellenbogen eingeheilt. Die Hernie wurde durch ein passendes Band zurückgehalten. Der Verletzte, welcher zunächst die Vollrente bezog, wurde nun nach einander von vier Aerzten behandelt resp. begutachtet. Vom Januar bis Juni d. J. wurde sein Arm einer consequent fortgesetzten Behandlung durch Gymnastik unterworfen, einer Cur, die ihm allerdings sehr viel Qualen verursachte, aber, wie das bei dem Vorhandensein des eingeheilten Drahtes nicht anders zu erwarten war, so gut wie keinen Erfolg hatte für die Beweglichkeit des Gelenks, vielmehr, wie ich noch ausführen werde, das angestrebte Resultat, eine feste Ankylose, theilweise vereitelte. Im Laufe der Zeit hatte man die Hernie, an welcher der Mann ganz entschieden vor dem Unfall nichtlitt, ganz unberücksichtigt gelassen, angeblich, weil er die Anlage dazu schon vorher gehabt habe. Beilaulig bemerke ich hier, dass dem Manne, welcher nur sehr gebrochen deutsch und von Haus aus polnisch
doi:10.1055/s-0029-1199069 fatcat:3blyvyb7a5hp3mehg2xijupdri