Die enthemmte Serie: Überlegungen zu Hemmung und Enthemmung am Beispiel von Game of Thrones

Merve Winter, Timo Storck, Jelka Berger
2019
Zusammenfassung: Zeitgenössische TV-Serien loten zunehmend die Grenzen des Darstellbaren aus und überschreiten diese, was das Zeigen von gewaltvollen Szenen angeht. Besonders die erfolgreiche Fantasy-Serie Game of Thrones (im Weiteren: GoT) ist hier zu nennen, die wir in dem vorliegenden Beitrag unter dem Blickwinkel von Hemmung und Enthemmung betrachten wollen. Dafür untersuchen wir diese Begriffe zunächst in der Freudschen Verwendung, wo wir Hemmung ei ner seits im Kontext des Über-Ichs, im
more » ... kundärprozess als Hemmung des Primärprozesses, und schließlich in der Kultur als Ergebnis eines Triebverzichts finden. Diese Freudschen Überlegungen wollen wir nutzen, um die Rezeption von GoT zu verstehen. Dabei folgen wir der Annahme, dass sich in medialen Produkten immer auch das Sag-und Zeigbare einer Gesellschaft spiegelt und sich somit Aussagen über deren Verfasstheit ableiten lassen. Eine psychoanalytische Untersuchung ausgewählter Episoden, bei der den Irritationen und freien Einfällen der Rezipierenden gefolgt wird, verdeutlicht, dass GoT gesellschaftlich virulente Gefühle inszeniert, damit aber auch greifbar und bearbeitbar macht. So wird den Zuschauenden ein Gefühl eines Mangels an Sicherheit vermittelt, das sich als Spiegelung eines in den westlichen Industriegesellschaften verbreiteten Lebensgefühls seit 9/11 verstehen lässt. Des Weiteren werden Bedingungen zum moralischen Handeln und ethischen Empfinden und dabei auch die Rolle und Bedeutung der Familie hinterfragt. Bei den Zuschauenden führt die Rezeption zu einer interpassiven Verschränkung von (abgewehrten) lustvollen und unlustvollen Aspekten angesichts der äußeren und inhaltlichen Grausamkeit. Schlüsselwörter: Gewalt, TV-Serien, Game of Thrones, Hemmung, Enthemmung © 2019, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der "Creative Commons Namensnennung -Nicht kommerziell -Keine Bearbeitungen 4.0 International" Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0) weiter verbreitet werden. The Walking Dead (AMC, 2010-) anguckt, muss hart im Nehmen sein: Menschen werden auf alle erdenklichen Arten gefoltert und getötet, es wird lebend kastriert, amputiert und vergewaltigt. Dabei wird auch vor Kindern nicht haltgemacht. Babies werden getötet, Kinder lebend ans Kreuz genagelt oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Grenzen des Sag-und Zeigbaren haben sich in der massentauglichen Film-und Serienindustrie offenbar verschoben. Es liegt nahe, hier an eine Enthemmung zu denken, die in den Mainstream eingezogen ist. Wo früher die sogenannten «Splatter-Filme» ein Nischendasein in den Videotheken führten und man (von wenigen Ausnahmen mal abgesehen) noch vergleichsweise sicher davon ausgehen konnte, von sehr grausamen oder blutigen Szenen, bzw. dem Tod der Hauptdarstellerinnen 1 in Kino oder TV-Serie nicht überrascht zu werden, sind heute die Grenzen zwischen dem «Splatter-» oder «Horror-Genre» und dem Mainstream-Kino, bzw. der TV-Serie weniger erkennbar. Zwar gibt es Serien wie ) und viele mehr, die ohne solche grausamen Szenen auskommen, aber die Zeiten von Unsere kleine Farm (NBC, Ein Colt für alle Fälle (ABC, 1981-1986) sind wohl vorbei (auch wenn es seit kurzem eine -wenig euphorisch besprochene -Neuauflage von McGyver gibt). Im vorliegenden Beitrag wollen wir der Frage nachgehen, welche Funktion diese von uns wahrgenommene Enthemmung im Zeigen von grausamen Szenen hat, bzw. ob sich überhaupt eine solche Funktion benennen lässt. Dabei hat uns interessiert, ob diese Serien sich trotz der zur Schau gestellten Gewalt einer solchen Beliebtheit erfreuen oder gerade wegen dieser, eine Frage, die sich im vorliegenden Kontext nur hypothetisch bzw. konzeptuell beantworten lässt. Die Diskussion um die Enthemmung kreuzt dabei unvermeidlich die Frage nach der allgemeinen Funktion von Gewalt in Film und Fernsehen, wozu es etliche Veröffentlichungen gibt, die hier nur ausschnittartig zur Kenntnis genommen werden können. Ähnliches gilt für die Sexualität, bei der wir interessanterweise weniger von einer Enthemmung sprechen können: Zwar sind Kino und Fernsehen durchaus freizügiger geworden, doch die Grenzen zwischen der Pornoindustrie und dem Mainstream-Fernsehen scheinen weiterhin zu bestehen. Speziell das US-amerikanische Fernsehen und Kino tut sich nach wie vor schwer mit allzu expliziten Sexszenen, das Zeigen von Vaginas oder erigierten Penissen ist nach wie vor tabu. Das gilt auch für die Serie Game of Thrones, obwohl gerade diese
doi:10.18754/jfp.60.9 fatcat:zeiza7djtjf7hp2wgy2tj7vrue