War Deutschland ein Wahlreich?
Karl Gottfried Hugelmann
1915
Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung
In der neuesten Forschung ist obige Frage aufgeworfen worden, deren Beantwortung, seit es eine Wissenschaft der deutschen Rechtsgeschichte gibt, niemals zweifelhaft schien. Ein verdienter Gelehrter erklärt es nun allen Ernstes für seine Absicht, "den fundamentalen Satz der deutschen Reichs-und Rechtsgeschichte, daß Deutschland ein Wahlreich war, zu erschüttern". Die aufgeworfene Frage ist für die Geschichte unseres Volkes, für die richtige Erfassung seiner Rechtsentwicklung von so großer
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... ng, daß eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der neuartigen und überraschenden Beantwortung, welche sie durch Frh. v. Dungern gefanden hat, wohl am Platze zu sein scheint I. Hiebei muß zunächst, um festen Boden zu gewinnen, festgestellt werden, daß Frh. v. Dungern keineswegs leugnet, daß "die deutschen ') Mit diesem Aufsatz entledige ich mich der Aufgabe, folgende Schriften zu besprechen: 1. War Deutschland ein Wahlreich? Yon Dr. jur. Frh. v. Dung er n, Professor in Czernowitz. Erweiterter Sonderabdruck aus der Festchrift für Adolf Wach. Leipzig 1913, Yerlag von Felix Meiner. 4° 70 SS. 2. Grund sätze und Anschaungen bei den Erhebungen der deutschen Könige in der Zeit von 911-1056. Von Dr. Johannes Krüger. (Gierkes Untersuchungen zur deutschen Staats-uud Rechtsgeschichte, 110. Heft), Breslau, Verlag von M. u. H. Marcus, 1911. 8° XVI und 144 SS. Die Bedeutung der besprochenen Schriften rechtfertigt es wohl, wenn die Besprechung selbst zu einem Aufsatz gediehen ist. Mitteiluugon XXXVI. 27 Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 6/25/15 5:47 AM 406 Karl Gottfried Hugelmann. Könige und Kaiser aus einer Wahl hervorgingen". Aber diese "Wahl" soll nicht das gewesen sein, "was wir heute (seit der französischen Eevolution) unter Wahl verstehen"; auch nicht, "was die Bechtsgeschichte bei der Frage der Berufung zum Königtum unter Wahl verstanden hat". (S. 1). Sehen wir zu, wie Frh. v. Dungern diese beiden Behauptungen begründet. "Wir setzen", so sagt er (S. 1), "wenn wir von der deutschen Königswahl sprechen, Erwählung in Gegensatz zu erblicher Berufung 1 ). In allen Ländern Europas, sagt die bisherige Lehre, wurde im Mittelalter der Herrscher durch ein Thronfolgerecht berufen, das sich nach erblichen Grundsätzen richtete -nur im römischdeutschen Reiche nicht; nur hier, wird gelehrt, lag die Befugnis, den Nachfolger auf den Thron zu berufen, bei dem Volk; oder doch bei einer bestimmten Wählerklasse; nur hier fiel nach dem Tode eines jeden Herrschers das Recht, den neuen König auszusuchen, wieder an die Wähler, zu freier Verfügung". Ich muß gestehen, daß mir kein einziger Vertreter dieser angeblich herrschenden Lehre bekannt ist. Ja, ich erinere mich nicht, irgendwo etwas ähnlich Klingendes gelesen zu haben, wie die hier von Frh. v. Dungern formulierte und -bekämpfte Lehre. Daß jemals jemand in dieser schroffen Weise die Entwicklung in Deutschland der in allen übrigen europäischen Ländern gegenübergestellt haben soll, ist doch von vornherein kaum denkbar. Was aber die herrschende Lehre über das uns hier zunächst interessierende deutsche Thronfolgerecht anlangt, so ist es, wenn wir etwa Waitz, Schroeder und Brunner 2 ) als ihre be-') Die Sperrungen in den Zitaten rühren vom Verfasser dieses Aufsatzes her. s ) Waitz-Seeliger, Deutsche Verfassungsgeschichte, VI 2 S. 163, lehrt: "Unzweifelhaft ist die Wahl seitdem ein wesentliches Moment für die Nachfolge in der Herrschaft des deutschen Reiches. Aber daß sie ganz und allein gegolten hätte, läßt sich nicht sagen. Was von altersher zum Wesen des germanischen Königtums gehörte, die Rücksicht auf das Geschlecht, die Anerkennung eines Rechtes, welches zuerst und vor andern die Mitglieder dieses hatten, bei der Wahl in Betracht gezogen zu werden, hat sich alsbald geltend gemacht: mitunter kann es scheinen, daß die Erbfolge das Übergewicht erhalte ; mitunter wirken die beiden Prinzipien zusammen. Dann treten sie aber auch in offenem Kampf sich gegenüber, ohne daß in dieser Periode das eine oder das andere vollständig den Sieg gewinnen konnte«. -Schroeder, RG. 6 S. 481, formuliert kurz: »Das Königtum beruhte auf einer eigentümlichen Verbindung von Erblichkeit und Wahl«. -Am schärfsten erf'aßt die innere Verknüpfung von Wahl und Erblichkeit seit der germanischen Zeit Brunner, Grundzüge 6 S. 15: »Der König wird aus dem königlichen Geschlechte gewählt, indem die Wahl den Mangel einer festen Erbfolgeordnung ersetzt« ; und S. 183 sagt er: »Jahrhunderte hindurch ergänzten sich Wahl und Erbgang; die Königswahl hielt sich zunächst an das regierende Geschlecht. .«.
doi:10.7767/miog.1915.36.3.405
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