A N A M N E S E Nicht warten, bis die Altersweisheit kommt

Bernhard Gurtner
unpublished
Die Zitate «Der Jammer ist nur, daß es ein ganzes Leben braucht, um die klinische Weisheit zu erwer-ben, die einen Arzt befähigt, das zentrale medizinische Problem mit einer guten Anamnese zu erkennen. Eine aufmerksame Erhebung der Anamnese bewirkt mehr, als nur Details zusammenzutragen. Sie ist die wichtigste Grundlage ärztlichen Handelns. Obgleich das Erheben einer Anamnese Zeit kostet, wird keine Zeit produktiver eingesetzt. Letztlich legt sie das Fundament für eine menschliche Beziehung
more » ... chen Patient und Arzt, die auf gegenseitiger Achtung beruht. In der kurzen Zeit, die für die Anamneseerhebung zur Verfügung steht, muß es das Ziel sein, über die essentiellen Fakten hinaus auch Einblick in das Innere des Menschen zu gewinnen. Zuhören schließt alle Sinnesorgane ein, nicht nur die Ohren. Zuhörenkönnen ist das kom-plizierteste und schwierigste aller Instrumente im Repertoire eines Arztes. Man muß ein aktiver Zuhörer sein, um unausgesprochene Probleme wahrnehmen zu können. Ich bin überzeugt, daß ein Zuhören, das über die Hauptklage hinausreicht, der wirksam-ste, schnellste und kostengünstigste Weg ist, um zum Kern der meisten medizinischen Probleme vorzudringen. Beschränkt man die Anamnese auf die im Vordergrund stehende Klage, so werden oft fruchtlose und irrelevante Maßnahmen, die das Hauptproblem nur am Rande berühren, in Gang gesetzt. Unter den Ärzten kursiert ein zynischer Aphorismus: ‹Wenn alles andere versagt, dann unterhalte dich mit dem Patienten!›» (Lown B. Die verlorene Kunst des Heilens. Anleitung zum Umdenken. Zweite, erweiterte und illustrierte Auflage. Stuttgart: Schattauer; 2004) Der Tipp Der weltberühmte Kardiologe Bernard Lown, der unter anderem den Defibrillator eingeführt hat, kommt in seinen Lebenserinnerungen immer und immer wieder auf den Wert einer guten Anamnese zurück und beklagt sich, dass heute viel zu rasch und viel zu häufig technische Interventionen noch vor einem einfühlenden Gespräch erfolgen. Als Paradoxon und Ironie empfindet er es, wie seine Forschungsarbeiten genau den Dingen Vorschub geleistet haben, die er zutiefst missbilligt. Lesen Sie seine «Anleitung zum Umdenken», damit Sie schon in jüngeren Jahren die Früchte seiner Altersweisheit für Ihre Patienten und damit auch für sich selbst pflücken können. Die Story «Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, warum sind Sie dann so verschlossen?» Eine etwas indiskrete und aufdringliche anamnestische Frage, die Bernard Lown bedauerte, kaum war sie ihm entschlüpft. Sie brachte aber eine 85jährige Patientin zum erschütternden und erstmaligen Geständnis, dass sie als Tocher einer angesehenen Bostoner Familie im Alter von 19 Jahren ein uneheliches Kind heimlich geboren und in einen Brunnenschacht gewor-fen hatte.
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