Zu den Frauenfiguren in der Prosa von Marlene Streeruwitz
Verena HOLLER
2000
Osutoria bungaku
Literarisches Schreiben und Lesen sind, wie alle Prozesse von Sprachfindung, m6gliche Formen des In-sich-Hineinblickens. Sind Schnitte in die sichtbare Oberflache, um tiefere Schichten freizulegen. Sind Forschungsreisen ins Verborgene. VerhUllte Mitteilungen Uber die Geheimnisse und das Verbotene. Sind Sprachen, die das Sprechen der Selbstbefragung m6glich machen. Und sie so zur Erscheinung bringen. Im gUnstigsten Fall fUhrt literarisches Schreiben und Lesen zur Erkenntnis.2) Literatur als
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... ntnisform, so also das poetologische Credo der Autorin, das Leserlnnen, durchaus zeitgemaS, zur entscheidenden GrdBe bei der Konstitution des literarischen Sinns avancieren ltiBt.3} Betrachtet man das Resultat dieser Sinnkonstitution, zu dem sich die gewissermaBen doppelt autorisierte, professionelle Leserschaft, die deutschsprachige Literaturkritik also, fand, so st6Bt man erst einmal auf eine erstaunliche Vielfalt an mbglichen Lesarten. In "Verftihrungen" ortete die deutschsprachige Literaturkntik zum einen "die Beschreibung des tristen weiblichen Alltags in seiner ganzen Banalittit", der so Uberdies prolongiert werde. Dies nicht zuletzt aufgrund einer anachronistischen Sichtweise der feministischen Dinge.") Zum anderen wird der von der Streeruwitz'schen Prosa initiierte Erkenntnisgewinn aber auch im "Gewaimerden der Banalitat, des Gefangenseins in der Trivialittit, das andererseits aber auch eine gewisse Lebbarkeit" darstelle, geortet.5) Wird ihren rlbxten einerseits "Patriarchats-Paranoia"6} attestiert, so beeindrucken sie andererseits auch "frauenpolitische Skeptiker"7). Angesichts dessen, daB es der Autorin offenbar gelingt, beide Aspekte der Dichotomie frauenfeindlich / emanzipatorisch im patriarchalen Diskurs fur sich zu reklamieren, scheint es durchaus interessant, der Frage nach den dem 'Ibxt immanenten Aussagen nachzugehen. StoBen Leserlnnen hier tatstichlich auf die viel beklagte schwarz / weiB Asthetik vom mannlichen Tater vs. weibliches Opfer wie sie aus den Anfangen der ,Frauenliteratur' bekannt ist? Wird hier al!en Ernstes wieder ein literarischer rlbxt zum Demonstrationsobjekt reduziert, um politisch motivierte Angriffe auf Uberlieferte Rollenbilder zu transportieren? Oder wird die (14) Gesellschaft fuer oesterreichische Literatur in Japan NII-Electronic Library Service Gesellschaftfuer oesterreichische Literatur in Japan Leserschaft hier gar mit tradierten Rollenklischees gelangweilt, die gesellschaftIiche Ttaditionsbildungen eher legitimieren, statt sie zu dekonstruieren? Antworten darauf lieBen sich recht einfach finden, indem man einen Blick aufs Personal der Streeruwitz'schen T;exte wirft. *** In einer nicht patriarchalen Poetik, so die Autorin in ihren Frankfurter Vbrlesungen, mtisse es zuerst einmal ums Leben gehen.S) Denn, so die Autorin weiter, nur tiber "das Leben als exemplarische Schnittstelle aller komplexen Strukturen, die uns bilden, die aber wiederum von uns mitkonstituiert werden", sei Gesellschaft darstellbar, die als solche immer unbeschreibbar bleibe.9} Mit Helene, der Hauptfigur in "Verfuhrungen" tO), taucht man ein in ein durch und durch unspektakultires Mittelschichtsleben einer nicht weiter auBergewdhnlichen Frau. 'Ibchter eines Gerichtsprtisidenten, abgebrochenes Kunstgeschic,htestudium, Mutter zweier Kinder und verlassene Ehefrau stottert sie im Streeruwitz'schen Stakkato ihren Alltag ab. Penibel bis ins kleinste Detail dokumentiert, changiert er monoton zwischen der Versorgung der beiden Kinder, einem Halbtagejob in einer etwas zwielichtigen PR-Agentur, Problemen mit dem Ehemann oder der krisengeschUttelten Freundin und ebenso bedeutungslosen Amaren. Je weiter man sich diesen in simpler Prosa beschriebenen 'Iligesablaufen entlang liest, desto deutlicher manifestiert sich, da3 sich das Leben der Helene Gebhart im Ertragen dieses Alltags erschOpft, Leben synonym gesetzt wird mit Passiv-Erdulden, Warten.
doi:10.20553/austriabungaku.16.0_a14
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