Die kleinen Ewigkeiten der Haltetöne im organum purum und die Kategorie der Ewigkeit bei Augustin als liturgischer Faktor. Zu einer ganz neuen Deutung der Liturgizität von ND-Organa [book]

Mathias Bielitz
2009
Die kleinen Ewigkeiten der Haltetöne im organum purum, der Ewigkeitsbegriff von Augustin und die Schönheit als Kategorie liturgischer Musik Zu einer ganz neuen Deutung der Liturgizität von ND-Organa 1 Das Unvermögen, Musik als solche sinnvoll betrachten oder gar analysieren zu können, führt nicht selten, aus irgendeinem, nicht immer leicht verständlichen Anlaß, irgendetwas zu irgendeinem, eher zufällig ausgewählt erscheinenden musikalischen Objekt sagen zu mü s s s e n , dazu, beliebte Topoi an
more » ... immer altneuen Objekten " nachweisen" zu wollen, und tiefer-und tiefstsinnige Folgerungen nach geläufiger Manier zum wiederholten Male aufzustellen. In jüngster Zeit ist neben den beliebten Topoi der musikalischen Semantik, der Symbolik, auch von irgendwelchen Zahlenspielereien, oder auch des Werkbegriffs in wie emphatischer Weise auch immer natürlich auch die Anwendung des Wortes Komponist zu problematisieren 1 -daß Hucbald den Sinn einer 1 W. Arlt gibt hier eine offenbar als mustergültig wissenschaftlich gemeinte Definition, deren exaktwissenschaftliche Klarheit dem Fach Musikiwssenschaft erstaunliche Perspektiven eröffnen könnte: Die Geschichte des Komponierens -im Sinne der schriftlichen Fixierung gezielter Entscheidungen bei der Wahl und Verbindung von Tönen zu individuellen Strukturen -..., Denken in Tönen und Strukturen: Komponieren im Kontext Perotins, Musik-Konzepte 107, edd. H.-K. Metzger u. R. Riehn, 2000, S. 53. Daß Musik aus Tönen besteht, die, mehr oder weniger, individuell ausgewählt und angeordnet sind, scheint -außer für M. Haas (vgl. Verf. Reginos degeneres Introitus, HeiDok 2007, 1. 7. 2, S. 257 ff.) -trivial, würde jedoch gerade von Guido (und jedem, der westliche Musik hört) so nicht akzeptiert werden können: Musik besteht aus kleinsten Formteilen, von denen einer auch einmal ein einziger Ton sein mag. Im Allgemeinen wird ja wohl mit etwas komplexeren Einheiten komponiert, so daß man mit der Definition des Tons als kleinsten Gestalt-unterscheidenden Merkmal vielleicht etwas weiter kommen könnte. Die Formelemente oder Formungsobjekte sind also meistens umfangreichere Gebilde als ein einziger Ton, so wie poetische Klangelemente nur dann Buchstaben/Phoneme sind, wenn eine Silbe eben einmal aus einem Vokal besteht: Die strukturellen Elemente müssen also nicht die Formungselemente sein, jedenfalls hat die lateinische Musiktheorie des Mittelalters dieses so gesehen, wenn es, worüber nun wirklich Einiges gesagt wurde, den Adrastschen Vergleich grundlegend und revolutionär umgedeutet hat, was für W. Arlt aber sicher ohne Bedeutung ist. Immerhin hat sich Verf. erlaubt, mehrfach darauf hinzuweisen, daß Guido von Arezzo diesen Vergleich nicht aus dem Willen, irgendetwas Neues zu sagen, von der Sprache auf die Poesie spezifiziert hat -Guido ist ein wirklicher Denkerüber Musik, von dem auch und gerade ein moderner Musikwissenschaftler Einiges lernen kann. Andererseits kann man, angesichts etwa der wohl direkt auf den Komponisten, den in derÜberlieferung immerhin als größter erscheinenden Melodieschöpfer des Mittelalters aus Mossul zurück-gehendenÄußerungen zur kompositorischen Arbeit als harter Mühe etc. vielleicht doch etwas daran zweifeln, daß man die Herstellung individueller melodischer Strukturen als konstitutives Element des terminologischen Gebrauchs des Wortes Komponieren nur auf die Schriftgebundenheit des Considera etiam, quodsi cantum proti in cursu deuteri simili vocum dispositione cantaveris, perparvam videbis disconventiam. ...; eigentlich scheint hier ja das Muster der Musica Enchiriadis zitiert zu werden, da, wo es um die Demonstration der Verschiedenheit der modi durch diatonische Verschiebung der identischen neuma geht. Die Melodien sind fast identisch, aber nicht gleich -meint dies Johannes Cotto mit simili vocum dispositione, oder hat hier dië Uberlieferung der Melodie einen Fehler gemacht (oder sollte man das der oral tradition Vagheit opfern, um Johannes Cotto mißzuverstehen?). Klar ist, daß die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Intervallstruktur gemeint ist, die sich bei der entsprechenden Verschiebung der identischen Melodie ergibt. Von Interesse ist hier, daß Johannes Cotto auch dieses Merkmal eigentlich der einstimmigen melischen Gestaltbildung nun auf das organum bzw. generell die Mehrstimmigkeit anwendet, als Beispiel dafür, wie man Melodie als Sänger/Komponist 4 formen, komponieren soll: Damit wird aber auch klar, daß Johannes Cotto die Melodiebildung der vox organalis -nur als Sigl des Gemeinten -als gleichartig, ja identisch mit der der Einstimmigkeit versteht: Das Beispiel soll für beide Schaffensvorgänge von Musik gelten. Daraus nun wieder folgt, daß für Johannes Cotto natürlich die " mehrstimmige" Stimme die wesentliche war, denn die mußte eben neu gestaltet, komponiert werden, nach den Regeln der Melik, sogar nach denen der Tonalität.Übrigens erübrigt sich damit die behauptete Neuheit des Postulats, dieüberlieferten -nämlich notiert -Beispiele organaler Mehrstimmigkeit, z. B. die von Chartres auch als Beispiele melodischen Denkens der Zeit nach ihrer inneren musikalischen Logik zu betrachten (bzw. zu " behören"), die ein großer Basler Musikwissenschaftler internetisch zum einem Workshop in Heidelberg ausgibt: Das ist für die Theorie der Zeit ersichtlich selbstverständlich, also auch vom modernen Interpreten zu beachten (übrigens bestehen auch dafür Hinweise in der Literatur). Andererseits: Sieht man da nicht doch ganz klar, daß das organum nur als Aktivität gesungen vorgestellt werden kann? Die Melodie dagegen komponiert man? dann allerdings nach identischen Regeln! Und wer eigentlich tausch geistig nicht gerade abwegig dummer Menschen bestand, wie man ihn sich auch heute gerne denken möchte -natürlich, das ist alles ohne jeden Wert, musikhistorisch irrelevant 6 denn, die organa können und dürfen nicht komponiert sein, also dürfen sie auch nicht niedergeschrieben worden sein, also kann die klare Aussage von Anonymus 4 ganz einfach nicht sein: Ein zweistimmiges organum, das im Magnus liber niedergeschrieben existierte, in den heute noch greifbaren Sammelwerken weiterhin existiert, kann keine Komposition sein, sondern muß irgendetwas mystisch Vages, aus völlig unerklärlichen Gründen, eigentlich gegen jede Deutungstopik Niedergeschriebenes, vielleicht ja allein aus angeblich liturgischer Symbolik Entstandenes, irgendwie nie Eindeutiges, irgendwie immer Veränderliches gewesen sein, denn in der Liturgie kann es sich ja nicht um komponierte Musik handeln 7 -nur, wie man schon beim Choral fragen muß: Warum kann dannüberhaupt irgendjemand auf die so unerlaubte Idee gekommen sein, diese Vagheiten niederzuschreiben, zu verschriftlichen, und damit doch so festzulegen, daß auch, wenn dazu die Fähigkeit und die Arbeitswilligkeit reichen sollte, heute noch die Form, die Struktur, die Befolgung der Regeln etc. davon abgelesen werden kann -als, wie Boethius formuliert, monumenta der Musik, des Willens der Komponisten der Zeit nun wohl schon mehr als achthundert Jahre erhalten. Aber, natürlich, da darf man doch nicht von monumenta sprechen; nur, davon spricht in Bezug auf die antike Notenschrift, die nur in der Georgiadesepigonie keine Notenschrift sein darf, aber Boethius, und der ist, wenigstens im Mittelalter, von Musikwissenschaftlern wie z. B. schon Hucbald gelesen worden. Insofern sind also auch im Magnus liber musikalische monumenta notiert und, mit doch wohl erheblichem Erfolg,überliefert worden. Reinästhetisch sind diese Kompositionen ja wohl auch nicht ganz ohne Reiz, jedenfalls wenn man die Fähigkeit haben sollte, solche Musik als Musik wenigstens analysieren zu wollen: Die Nutzung von teurem Pergament zurÜberlieferung dieser musikalischen monumenta hat sich doch offensichtlich gelohnt -oder doch nicht, wenn man derartig topisch im Denken eingeschränkte Deutungen lesen muß oder darf? Nur, wenn man schon so vorgeht, wäre es ja vielleicht nicht ganz abwegig, einmal danach zu fragen, woher der Anonymus 4, es sei wiederholt, nicht IV, eigentlich aus seiner räumlichen und zeitlichen 8 Distantheitüberhaupt auf die Idee gekommen sein kann, nicht nur mehrere Personen nebulös zu erfinden 9 , 6 Allerdings forderte es dann eigentlich die wissenschaftliche Redlichkeit, diese Irrelevanz auch nachzuweisen, und nicht nur einfach zu behaupten. 7
doi:10.11588/heidok.00009671 fatcat:4lxdlwqi5zgsxpkhmqgcup6thi