Ist Breitbart News ein Kunstprojekt?
Sophie-Charlotte Schönberger, Fachinformationsdienst Für Internationale Und Interdisziplinäre Rechtsforschung
2017
In gewisser Weise scheint die Esra-Entscheidung zehn Jahre nach ihrer Verkündung schon aus einer anderen Zeit zu stammen. Die Problemlage, der sich das Bundesverfassungsgericht hier zu stellen hatte, unterschied sich nicht grundsätzlich von derjenigen, die dem 30 Jahre zuvor getroffenem Mephisto-Urteil zugrunde lag: Ein klassischer Roman, in dem der Autor persönliche Erlebnisse verarbeitet, stößt auf Protest, weil Weggefährten des Schriftstellers sich durch sein Werk in einer Weise portraitiert
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... fühlen, die ihre tatsächlichen oder vermeintlichen charakterlichen Schwächen sowie intime Details ihres Privatlebens in höchst unvorteilhafter Weise der Öffentlichkeit vorführt. Schon Thomas Manns Buddenbrooks entfachten zu ihrer Zeit ähnliche Konflikte, ohne dass diese allerdings gerichtlich ausgefochten worden wären. Auch die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, mit denen das Bundesverfassungsgericht nun den Roma von Maxim Biller beurteilte, schienen zwar im Detail durchaus neu, erwiesen sich aber im Ergebnis doch eher als zaghafte Modifizierungen von Altbekanntem. Die in der Entscheidung neu entwickelte "doppelte je-desto-Formel", die Ausmaß der Verfremdung zwischen Abbild und Urbild und Intensität der Persönlichkeitsrechtsverletzung in ein kalibrierbares Verhältnis bringen will, wurde zwar öffentlichkeitswirksam wahlweise als juristischer Durchbruch gefeiert oder als Bedrohung für die Freiheit der Literatur gebrandmarkt. Im Ergebnis lässt aber auch sie die entscheidende Frage des Konflikts offen: Wo verläuft die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit? Diese Frage wirft heute weitaus größere Abgrenzungsprobleme auf, als ihre Thematisierung im begrenzten Konflikt zwischen Kunstfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht im Roman zunächst vermuten lassen. Wenn in diesen Tagen etwa der amerikanische Präsident seine Grenzsicherungspolitik damit erläutert, dass 30 kg schwere Säcke mit Drogen über meterhohe Grenzzäune geworfen und auf diese Weise amerikanische Grenzbeamte erschlagen würden, wenn derselbe Präsident eine Untersuchungskommission einsetzt, um seiner eigenen, auf keinerlei Tatsachen beruhenden Erzählung auf den Grund zu gehen, Millionen von Toten und nicht wahlberechtigten Ausländern hätten bei der vergangenen Präsidentschaftswahl für seine Konkurrentin gestimmt, dann scheint die vermeintlich doch so einfach zu ziehende Grenze zwischen Fiktion und Realität in bisher unbekannter Weise herausgefordert. Derartige Äußerungen sind keineswegs auf die USA unter Präsident Trump beschränkt. Als im letzten Wahlkampf zum Berliner Abgeordnetenhaus der Spitzenkandidat der AfD darauf verwies, dass es nicht nur um Statistiken gehe, sondern darum, was die Bürger empfänden, denn: "Das was man fühlt, ist auch Realität", wie weit war man dann noch entfernt von der "wirklicheren Wirklichkeit", nach der laut den Ausführungen des Bundesverfassungsgericht in seiner Esra-Entscheidung jedes Kunstwerk in Abgrenzung zur "realen" Wirklichkeit strebt, weil so "die reale Wirklichkeit auf der ästhetischen Ebene in einem neuen Verhältnis zum Individuum bewusster erfahren wird"? Anders formuliert: Ist Breitbart News vielleicht ein Kunstprojekt? Bestimmte narrative Elemente gehören seit jeher zur öffentlichen politischen Kommunikation. Die Vorstellung, in der politischen Auseinandersetzung würden lediglich Meinungen über Realität ausgetauscht, wäre naiv. Die Neigung, vielleicht sogar die Notwendigkeit der Narration betrifft dabei sowohl die politischen Akteure selbst als auch die über sie berichtenden Medien, auch wenn wir jedenfalls an die klassischen Massenmedien nach wie vor ethisch wie rechtlich den Anspruch stellen, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden. Mittlerweile sind es aber eben nicht mehr so ausschließlich die klassischen Massenmedien, die unseren medial vermittelten Eindruck von der Welt prägen. Insbesondere die sogenannten sozialen Medien wenden sich vom herkömmlichen Programm der Massenmedien deutlich ab und schaffen einen neuartigen medial vermittelten Kommunikationsraum mit ebenso neuen Regeln. Dabei lösen sie auch den klassischen Bereich des "Klatsches", der immer schon über eine eher durchlässige Grenzen zur Imagination verfügte und in vielerlei Hinsicht eine ähnliche soziale Funktion wie diese erfüllt, aus dem begrenzten Bereich der unmittelbaren, meist mündlichen, direkten zwischenmenschlichen 1/2
doi:10.17176/20170725-165852
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