Gesetze, Verfassungskonventionen, Präzedenzfälle [chapter]

Wilfried Nippel
Eine politische Kultur (in) der Krise?  
Die römische Verfassung basierte auf einer Vielzahl von Regeln unterschiedlicher Geltungsgründe. Darüber besteht in der Forschung Konsens, nicht jedoch darüber, wie diese Regeln zustande kommen und wie das Zusammenspiel beziehungsweise der Konflikt zwischen Regeln divergierender Provenienz zu erklären ist. Dazu sollen hier einige höchst vorläufige Überlegungen angeboten werden, in dem Sinne, daß erstens die Bedeutung des Sakralrechts stärker beachtet werden sollte, als dies gemeinhin der Fall
more » ... t, und daß zweitens die beliebte Rede von der Bedeutung des mos maiorum eine Scheinlösung darstellt 1 . Als Cicero in seiner Rede für Sestius sozusagen die römische Verfassung definiert, nennt er die Elemente: religiones, auspicia, potestates magistratuum, senatus auctoritas, leges, mos maiorum, iudicia, iuris dictio, fides, provinciae, socii, imperi laus, res militaris, aerarium (98). Liegt hier eine beliebige Aufzählung oder doch eine implizite Hierarchisierung vor? Wenn man einmal willkürlich einen Schnitt hinter mos maiorum macht, dann stößt sich die Annahme einer Normenhierarchie jedenfalls an der Reihenfolge potestates magistratuum, senatus auctoritas, leges. Den Vorrang der magistratischen Gewalt könnte man immerhin darin begründet sehen, daß nicht die magistratischen Amtsgewalten als solche, sondern nur Modifikationen ihrer Anwendbarkeit durch Gesetze begründet worden sind, auch wenn in der Annalistik Einführungsgesetze für Magistraturen erfunden worden sind. Eine Höherrangigkeit von Senatsentscheidungen vor Gesetzen entspricht jedoch nicht der unbestrittenen Verfassungspraxis der mittleren und späten Republik. So viele Materien sowohl durch Senats-wie Volksbeschluß geregelt werden konnten, im Zweifelsfall war doch der Volksbeschluß die höherrangige Norm. Wenn Cicero mit religiones und auspicia beginnt, dürfte dies allerdings kein Zufall sein, denn es paßt zu weiteren Äußerungen von ihm, in denen er die Auspicien als Grundpfeiler der Verfassung (firmamenta rei publicae; rep. 2, 17; fundamenta civitatis; nat. deor. 3, 5) hervorhebt oder den Auguren das höchste Recht im Gemeinwesen (maximum et praestantissimum ius; leg. 2, 31) zuschreibt. Cicero führt an der zuletzt genannten Stelle eine Reihe von Fallgruppen an, in denen durch ein Votum der Auguren bestimmte Entscheidungen verhindert oder für ungültig er-
doi:10.1515/9783110446524-008 fatcat:k2zida3cwfca5bkhzl6exlq454