GOTICA

M. J. V. D. MEER
1914 Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur  
Der gotische acc. c. inf. in subjectsätzeu und nach sivaei und swe. Weil diese constructionen in den anderen altgermanischen sprachen nicht vorkommen, bis jetzt wenigstens noch nicht nachgewiesen sind, fast immer wörtliche Übersetzungen der vorläge sind und der griechische acc. c. inf. in subjectsätzen und nach sehr oft auf andere weise übersetzt wird, haben Streitberg 1 ) und der Verfasser 2 ) des vorliegenden artikels sie für gräcismen gehalten. Curme 3 ) bestreitet dies und beruft sich, um
more » ... s gegenteil zu beweisen, eigentlich allein auf neuenglische parallelen. M. e. haben diese bloß psychologischen wert und können nur dazu dienen, klarzumachen, wie solche Verbindungen in den sprachen, in denen sie idiomatisch sind, wahrscheinlich gefühlt wurden. Nun ist aber die frage, ob dies für das gotische der fall ist, zunächst ein historisches problem und dafür muß den neuenglischen parallelen die be-\veiskraft abgesprochen werden, solange nicht feststeht, wie alt sie sind und unter welchen einflüssen sie entstanden sind. Es ist nämlich von vornherein durchaus nicht als unmöglich zu betrachten, daß solche syntaktische gebilde sich unter romanischer einwirkung entwickelt hätten. So hat z. b. W. van Helten für das mittelniederländisclie nachgewiesen, daß der absolute acc., dessen n ach Wirkungen sich bis in die neuniederländische Volkssprache verfolgen lassen, eine nachahmung des altfranzösischen absoluten acc. ist. 4 ) Andererseits haben die Untersuchungen von Stolzenlmrg 5 ) und besonders die von Kapteijn") uns gelehrt, daß man dem ') E.B. 2,3-4 §317 b. H.212. 2 ) Gotische casns-syntaxis ((}ronini»er disseitation), Leiden 1U01, £ tt2, s. 57 b. u. Opm. l n. 58. 3 ) Journal of eiigl. a. gcrin. i>hiloloj»-y 10, ,' i.V.) ff. «) Tijilechrift 5, 207 ff. ·') Zs. filph. 37, M5 ff. °) l F. 2!>, 2« Brought to you by | University of Queensland -Authenticated Download Date | 6/21/15 11:42 AM 202 VAN DER MEER Übersetzer unrecht, tut, wenn man behauptet, daß seine Übersetzung 1 (?ine sklavische naehahmimg sei. Sehr oft weicht er aus grammatischen, idiomatischen oder stilistischen gründen von der vorläge ab, wenn er sich auch betleißigt, dieselbe möglichst getreu zu übersetzen und sich dem satzbau derselben genau anzupassen. Daß er nicht sklavisch verfährt, geht auch daraus hervor, daß er denselben griechischen ausdruck oft auf sehr verschiedene weise übersetzt. So finden sich, um nur einen fall herauszugreifen, für tlg & ( ) bestimnuingen mit in c. dat. in c. acc. mit du, und und bloße dat.-und acc.-bestimmungen. Es ist also anzunehmen, daß er in der regel auch dort, wo er wörtlich übersetzt, idiomatisches gotisch schreibt. Wir sind deshalb nicht berechtigt, ein syntaktisches gebilde, das wörtlich mit dem griechischen übereinstimmt, uns sonderbar anmutet und wofür wir im altgermanischen keine parallelen kennen, schon aus diesen gründen für ungotisch zu erklären. Curme geht aber, meiner ansieht nach, zu weit, wenn er aus dem unverkennbaren Sprachtalent, das Wulfila zeigt, folgert, daß ihm nie ein gräcismus entschlüpft sein könnte. Auch wenn wir in Übereinstimmung mit der üblichen ansieht annehmen, daß die ganze bibel von ihm stammt, daß gotisch seine muttersprache war und mit Curme, daß er nicht bewußt gräcisiertes gotisch schreibt, ist dies nicht ausgeschlossen. Auxentius berichtet uns. daß er 'graecum et latinum et goticam linguam ... praedicavit ... et ipsis tribus linguis plures tractatus et multas interpretationes ... post se dereliquid' 1 ) und ebenso wie einem modernen menschen, der mehrere sprachen beherrscht, wenn er sich auch befleißigt, seine muttersprache rein zu schreiben, mitunter ein ... ismus unterläuft, so wird dies auch Wulfila passiert sein. Wenn also eine bestimmte griechische construction regelmäßig durch eine andere gotische übersetzt wird, vereinzelt sich aber eine wörtliche Übersetzung findet, so liegt die annähme nahe, daß es sich um einen gräcismus handelt, wofern nicht das gegenteil wahrscheinlich gemacht werden kann. Die frage, was in einem bestimmten fall das wahrscheinlichere ist, kann nur eine genaue prüfung der *) Streitberg, Die got. bibel I, einl. s. xvi. Brought to you by | University of Queensland -Authenticated Download Date | 6/21/15 11:42 AM
doi:10.1515/bgsl.1914.1914.39.201 fatcat:te7dcslqundntiq2tlp7obtga4