Rundgang eines Linkshänders [chapter]

Friedemann [Hrsg.] Malsch
2018
Ich komme ein Mal im Jahr nach Vaduz, um Zwischenstation auf meinem Weg zu den karolingischen Fresken am Fusse des Umbrailpasses zu machen. Nicht, um meine Kontoauszüge zu über prüfen, sondern um das Kunstmuseum zu besuchen. Ich schätze dieses Gebäude auf eine ganz aussergewöhnliche Weise. Denn ich bin Linkshänder. Normalerweise liegen Museumscafes in der ganzen Welt immer rechts vom Eingang. In Liechtenstein ist dies jedoch anders. Dort liegt das Cafe linker Hand, was mich jedes Mal mit einer
more » ... rossen Lust auf eine fürstliche Pause erfüllt. Gleichzeitig beschleicht mich ein schlechtes Selbstwertgefühl, denn normalerweise schaut ein Deutscher erst die Kunst an und geht dann ins Cafe. In Vaduz ist es jedoch anders. Dort rege ich meinen Kreislauf erst einmal mit einem doppelten Espresso an und laufe dann in der Ausstellung zu koffeinierter Höchstform auf. Rechtshänder neigen wahrscheinlich dazu, nach rechts in die Sammlungsräume des Erdgeschosses zu laufen. Ich dagegen schreite mit erwartungsvoll feierlichem Schritt in den Parnass der Kunst hinauf. Instinktiv wende ich mich nach links. Häufig werde ich von den äusserst freundlichen Aufsichtskräften charmant dar auf hingewiesen, dass dies die "falsche" Richtung sei, weil hinter diesem Durchgang doch das Ende der Ausstellung gedacht sei. Doch manchmal bin ich widerspenstig und flitze in einem unbe obachteten Moment an der Aufsicht vorbei. Ich schaue die Aus stellung von ihrem Ende her an. Für mich ist die linke Seite eindeutig wichtiger als die rechte. Wenn ich linksherum gehe, bringe ich die ganze Anordnung, das Display, die kunstvolle Komposition des Kurators, durcheinander. Ich könnte wahrscheinlich viele Kuratoren zur Verzweiflung brin gen, da ihre Konzepte bestimmt an solchen Personen wie mir scheitern. Denn ich sehe die Kunstwerke aus einer vollkommen anderen Perspektive: vom letzten Werk zurück zum ersten, vom jüngsten Objekt zum ältesten, vom Ende zum Anfang, von hinten nach vorne. Ich schaue also regressiv oder retrograd, aber nicht progressiv oder avantgardistisch. Vielleicht nehme ich -ohne es zu ahnen -durch meinen lefthander turn die Kunstgeschichte von ihrem Ende her wahr, vom Neuen und Unbekannten, das ja bekanntlich die Kraft hat, alles Zurückliegende und Ältere funda mental zu verändern. Deswegen kommt mir die Art und Weise, wie Friedemann Malsch und Christiane Meyer-Stoll Ausstellungen einrichten, sehr ent gegen. Das Display des Kunstmuseum Liechtenstein ist aus serordentlich interaktiv. Jedes Kunstwerk antwortet auf seinen Nachbarn. Es tritt mit ihm in einen Dialog, gibt einen Kommen tar, definiert einen neuen Aspekt, erweitert seine Bedeutung, irritiert das soeben Gesehene. Im Kunstmuseum Liechtenstein werden die Ausstellungsgegenstände in ein räumlich inszenier tes und in wohlabgewogener, zeitlicher Choreografie arrangier tes Display eingefügt. Es umgreift den ganzen Raum in seiner kuratorischen Anordnung. Von der linken Wand geht es auf die gegenüberliegende rechte und dann diagonal in einem Zickzack kurs nach vorne. Für einen Rechtshänder läuft die liechtenstei nische Enfilade Rechts Mitte Links, Rechts Mitte Links und so weiter. Die Mitte kann manchmal leer sein. Für mich als Links händer geht es jedoch genau in umgekehrter Reihenfolge durch die einzelnen Räume: Links Mitte Rechts, Links Mitte Rechts und so fort. Ich interpunktiere die Interaktionen in umgekehrter Rich tung und somit auch in umgedrehter Reihenfolge. Meine ästhe tische Erfahrung einer Ausstellung im Kunstmuseum Liechten stein unterscheidet sich daher grundlegend von der ästhetischen Erfahrung eines Rechtshänders. Aber vielleicht gilt das nur beim Betreten des Museumsgebäudes? Solche Fragen kann nur ein Linkshänder stellen.
doi:10.11588/artdok.00006033 fatcat:gqsx65roivecloxvqgjrve7roi