Bio-Politik versus Lagerparadigma. Eine Diskussion anhand des Lebensbegriffs bei Agamben und Foucault [chapter]

Maria Muhle
Auszug aus dem Lager  
___ In seinem Buch Homo sacer vertritt Giorgio Agamben die These, daß das biopolitische Paradigma der Moderne nicht mehr der Staat, sondern das Lager ist. Gegen Agambens These möchte ich im folgenden die Frage untersuchen, ob das Lager im Sinne eines Paradigmas tatsächlich die zentrale Rolle in einem Verständnis von Bio-Politik einnehmen kann und soll. Mir scheint die Idee des Lagers nicht nur wenig hilfreich, sondern für ein angemessenes Verständnis von Bio-Politik in gewisser Weise sogar
more » ... ührend zu sein. Mit der Formulierung dieses Vorbehalts möchte ich überdies zu einer Ausarbeitung des Begriffs der Bio-Politik beitragen. ___ Agambens These vom Lager als biopolitischem Paradigma der Moderne scheint einen wesentlichen Aspekt von Michel Foucaults Grundanliegen vergessen zu machen, der für den Begriff der Bio-Politik entscheidend ist. Der Unterschied zwischen Agambens und Foucaults Verständnis von Bio-Politik besteht vor allem darin, daß Foucault Bio-Politik als Kontrast zum Begriff der souveränen Macht einführt. Erst vor dem Hintergrund der historischen und analytischen Unterscheidung beider Machtformen untersucht Foucault deren Verschränkung in den totalitären Gesellschaftsformen des 20. Jahrhunderts. Für Agamben hingegen bilden Bio-Macht und souveränes Recht zu töten nicht zwei unterschiedliche Machtregime, sondern eine Struktur des Politi-[ 78 ] schen. Diese Annahme eines wesentlichen Zusammenhangs beider Machtformen stellt die Grundlage sowohl für die These einer strukturellen Solidarität von Totalitarismus und Demokratie als auch für ein Verständnis des Lagers als biopolitischem Raum par excellence dar. ___ Foucault beendet seine Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft der Jahre 1975/76 am Collège de France mit folgender Frage: "Wie kann man aber eine Bio-Macht funktionieren lassen und zugleich Kriegsrechte ausüben, das Recht auf Mord und die Funktion des Todes, wenn nicht über Rassismus? Das war das Problem, und ich denke, es ist nach wie vor das Problem." 1 Foucault stellt hier die Frage nach der Verschränkung zweier Machtregime, dem Regime der souveränen Macht, die sich über das Recht über Leben und Tod artikuliert, und dem Regime der Bio-Politik, deren grundlegender Mechanismus die durchgängige Besetzung des Lebens ist. 2 Diese Verschränkung, so Foucaults Antwort, kann anhand des Rassismus in seiner staatlichen Ausformulierung im 19. Jahrhundert verstanden werden: "Im großen und ganzen [sichert der Rassismus], denke ich, die Funktion des Todes in der Ökonomie der Bio-Macht." 3 Doch in gewisser Weise scheint diese eher soziologisch-geschichtliche Antwort für Foucault unbefriedigend zu sein. Die Ausgangsfrage müßte lauten, inwiefern der Staatsrassismus die einzig mögliche Erklärung für das Ineinanderfallen von Bio-Politik und souveräner Macht ist oder, in Termini politischer Systeme, von Demokratie und Totalitarismus. ___ In den Vorlesungen aus den Jahren 1977/1978, die kürzlich unter dem Titel Sicherheit, Territorium, Bevölkerung erschienen sind, setzt Foucault die Analyse der Machtmechanismen mit einer Politik der Wahrheit gleich, die er als Substrat der soziologischen, historischen und ökonomischen Fragestellungen beschreibt: "Nun sie sehen, in dem Maß, in dem es sich darum [um eine Politik der Wahrheit] handelt und nicht um Soziologie, nicht um Geschichte oder Ökonomie, hat in meinen Augen die Analyse der Machtmechanismen zu zeigen, welches die Wirkungen des Wissens sind, die in unserer Gesellschaft hervorgehen aus den Kämpfen, Konfrontationen, Gefechten usw., die darin ablaufen, und aus den Taktiken der Macht, die die Elemente dieses Kampfes sind." 4 Nicht der Rassismus erzeugt die Überlappung der beiden Machtregime (sondern umgekehrt, der Rassismus entsteht, wenn sich die beiden Regime überlappen), denn dessen Tatsache [ 79 ]
doi:10.14361/9783839405505-004 fatcat:grgfh655pnavtlb56gp2jfr5wa