MENSCH 2.0

Konrad Paul Liessmann
2015 Kursbuch  
Die Kritik gehört zu einer Welt von gestern In einer neuen und sehr schicken Kunstzeitschrift findet sich unter der Rubrik »Modestadt Berlin« und der Überschrift »Ästhetische Rivalität zwischen Punk und Techno« das Bild einer selbstbewußt-lasziven jungen Frau, im gestylten Straßencafé in einem Korbstuhl lehnend, malerisch mit Tuchresten und Fetzen drapiert, die Brüste kaum verhüllt, ein Weinglas vor sich. Es handelt sich, so erfährt der Leser, um die Jung designerin Darja Richter, eine
more » ... hülerin von Wolfgang Joop, die mit einem selbstentworfenen Oberteil solcherart posiert; für ihr fahles Make-up zeichnet übrigens Odile Agée verantwortlich. Darja Richter, so erläutert der Kommentar, »versteht Mode als Diskurs über das Geschlecht« und verknüpft »die Formensprache des Punk mit Fragen nach der weiblichen Selbstdarstellung«, sie verwendet »überwiegend Filz, markiert mit aufgenähten Dreiecken und Kreisen Geschlechtsmerkmale oder entblößt sie«. Und auf der MODA 94 »kontextualisierte« sie mit einer parallel zur Entwurfspräsentation projizierten Dia-Show den »Zusammenhang zwischen Textilindustrie und Prostitution«. Das also ist es, was nach der Postmoderne das ästhetische Bewußtsein markiert. Untrennbar fließen Kunst, Werbung, Design, Propaganda, Unterhaltung, Lebensgefühl, Mode, Kritik und Konsum ineinander. Versatzstücke der Moderne wie das aufklärerische Pathos, der Filz und die Sorge um Randgruppen kreuzen sich mit postmodernem Ästhetizismus, die sichtbaren Signale einstiger Protestbewegungen werden zu Markenzeichen, und industriell verordnete Freizeitekstasen mutieren zu einer neuen Kunst-und Jugendbewegung, die Geschlechterfrage darf nirgendwo fehlen, wer andere schminken kann, beansprucht die Aureole des
doi:10.5771/0023-5652-2015-182-31 fatcat:2bbnksktbvegvncnucalbpktmu