Zur Relation von Selbstreferenz im lyrischen Früh- und Spätwerk Goethes
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Marianne Wünsch
2020
Selbstreferenz in der Kunst
Phänomene von Selbstreferenz in Goethes Frühwerk finden sich nicht zuletzt in Erwache, Friederike und in Maifest (beide in den 1770er Jahren entstanden). 1 Beide sind insofern repräsentative Texte des Frühwerks, als in ihnen die Fiktion einer Identität von Sprechsituation und besprochener Situation aufgebaut wird, das heißt, dass der explizit gegebene Sprecher in beiden Texten vorgibt, genau über die Situation zu sprechen, in der er sich gerade befindet. In Erwache, Friederike verhält sich
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... s Ich, als würde es die noch schlafende Geliebte adressieren -insofern paradox, als diese das sprechende Ich noch gar nicht zu hören vermag; denn noch am Ende der zweiten und dritten Strophe wird behauptet, sie schlafe immer noch, und erst zwischen fünfter und sechster Strophe wird präsupponiert, dass die Geliebte inzwischen erwacht ist. In der sechsten Strophe wird zudem vom Ich gesetzt, dass die Geliebte zur Strafe ihrer Langschläferei nun hören müsse, "was ich gereimt": das aber ist genau der Text, in dem diese Aufforderung ergeht. Nicht nur nimmt der Sprecher in seinem eigenen Text eindeutig auf eben diesen Text Bezug, sondern genau dieser Text muss zudem explizit wiederholt werden, da die Geliebte ja die ersten fünf Strophen verschlafen hat, wobei die Wiederholung naturgemäß vor der sechsten Strophe enden muss, da sonst ein nicht zu beendender Prozess einsetzen würde. Dieselbe Sprechsituation -ein Ich als Sprecher und eine Geliebte als Adressatin -liegt auch in Maifest vor; doch handelt es sich um eine andere Form von Selbstreferentialität. Sukzessive bejubelt das Ich zunächst die Natur, dann die Liebe, das Mädchen, das er liebt, um von beidem schließlich zur Dichtungsthematik zu gelangen. Nun wird einerseits die Natur in Gestalt der Lerche mit 'Gesang' korreliert; zweitens die Liebe des Ich zur Adressatin mit der der Lerche zum 'Gesang' gleichgesetzt, wie es drittens von der Liebe des Ich zum Du heißt, dass sie ihm "Freud" und "Mut / Zu neuen Liedern/ Und Tänzen" gäbe. Das alles wird seinerseits mit Frühling, Morgen, Jugend korreliert. An der Textoberfläche werden die aus dem Gedicht rekonstruierbaren logischen Relationen dieser Bereiche soweit als möglich verschleiert: scheinbar ohne jede rationale Begründung geht der Text von einem zum anderen über. Die zugrundeliegenden Relationen sind aber offenbar die folgenden: Liebe ist ein natürliches, weltge-
doi:10.5771/9783956507380-141
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