Weil, Jiří: Sechs Tiger in Basel. Erzählungen. Ausgewählt von Urs Heftrich und Bettina Kaibach. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Bettina Kaibach. Kommentiert von Michael Špirit

Andreas Ohme
2016
Libelle, Lengwil-Oberhofen 2008, 221 S. Für das interessierte deutsche Lesepublikum ist der tschechische Autor Jiří Weil schon lange kein Unbekannter mehr. Seine drei wichtigsten Romane "Moskva -hranice" (1937; Moskau -die Grenze), "Život s hvězdou" (1949; Leben mit dem Stern) und "Na střeše je Mendelssohn" (1960; Mendelssohn auf dem Dach) liegen seit Längerem in deutscher Übersetzung vor. Zudem wurde "Leben mit dem Stern" zusammen mit dem 1958 erschienenen "Klagegesang für 77297 Opfer"
more » ... v za 77297 obětí) in die bei der Deutschen Verlagsanstalt erschienene 33-bändige "Tschechische Bibliothek" aufgenommen, die einen repräsentativen Überblick über das tschechische Schrifttum in deutscher Sprache geben möchte. Charakteristisch für all die genannten Texte ist der Umstand, dass Weil in ihnen zeitgeschichtliche Ereignisse verarbeitet, die zudem in der Regel autobiografisch gefärbt sind. Als linksintellektueller Jude, der dem konformistischen Druck des Stalinismus ebenso ausgesetzt war wie der nationalsozialistischen Judenverfolgung, hatte Weil in der Tat einiges zu erzählen. Im thematischen Zentrum seines Werkes stehen mithin die fatalen politischen Entwicklungen im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei die Auseinandersetzung mit dem Holocaust den breitesten Raum einnimmt, so auch in seiner Kurzprosa, die nun in einer Auswahl unter dem Titel "Sechs Tiger in Basel" greifbar ist. Dieser Band versammelt Texte aus verschiedenen Schaffensperioden des Autors, die hier mit drei Ausnahmen erstmals in deutscher Übersetzung erscheinen und somit auch dem des Tschechischen unkundigen Leser nicht nur einen Einblick in das Themenspektrum von Weils Werk, sondern auch in dessen stilistische Vielfalt geben. Eröffnet wird der Band von fünf Reiseskizzen, die sich, trotz ihrer offenbar recht unterschiedlichen Entstehungszeit, hinsichtlich ihrer Machart ähneln: Ein namenloser Ich-Erzähler schildert seine vereinzelt von Reflexionen unterbrochenen Erlebnisse und Eindrücke in einem dezidiert sachlichen Ton, wobei die Darstellung in medias res einsetzt und zumeist ebenso abrupt abbricht. Zwar gehorchen diese Skizzen, die an ganz unterschiedlichen Schauplätzen im Europa und Asien der 1920er und 1930er Jahre angesiedelt sind, dem Schema des Reiseberichts insofern, als sich das Geschehen in seiner chronologischen Folge entfaltet, doch wird dieser lineare Ablauf durch ein anderes Kompositionsprinzip überlagert, nämlich durch die Aquivalenzbeziehung des Kontrasts, durch die einzelne Motive oder ganze Episoden zueinander in Beziehung gesetzt werden. Da der Erzähler diese Gegenüberstellung disparater Sachverhalte weitgehend unkommentiert lässt, kommt dem Leser selbst die Aufgabe zu, sich einen Reim auf das Gelesene zu machen, so auch im Falle von "Die Büste des Dichters".
doi:10.18447/boz-2010-2501 fatcat:o2kl2ky36bg3vazb4p7iktvqii