Europa an der Wand : Schweizerische Verortungen

Walter Leimgruber
2013
Europa hängt, so scheint es nach den EU-Verfassungsabstimmungen der letzten Jahre und nach der unendlichen Türkei-Diskussion, in der Luft. Vielleicht müsste man auch sagen, die Luft ist aus Europa raus, der blaue Ballon mit den leuchtenden gelben Sternen ist von einem runden, aufsteigenden Fluggefährt zu einer zerknautscht-zerknuddelten, fluguntauglichen Gummimasse geworden. Das Bild ist einseitig, die Katerstimmung wohl primär im Westen anzusiedeln, im Osten des Kontinents sieht es anders aus,
more » ... zumindest in dem Teil des Ostens, der vor Kurzem den Schritt nach "Europa" geschafft hat, in die EU aufgenommen und damit wohl erst richtig europäisiert worden ist, wie das wenigstens dem Westen bisweilen erscheint. Aber auch im fernen europäischen Osten und Südosten des Kontinents, wo die "Wilden" hausen, die zivilisiert werden müssen, erfüllt der über den Köpfen schwebende, so nahe und im Moment doch so unerreichbare blaue Ballon weiterhin seine Pflicht, signalisiert Aufbruch in die Zukunft und die Hoffnung, in den erlauchten Klub aufgenommen zu werden. Allüberall künden vor allem in diesen Regionen Schilder mit EU-Emblemen, dass diese hier baut, fördert, finanziert: Autobahnen ohne Verkehr, die ins Nirgendwo führen, alte Häuser, die restauriert, neue, die schnell aus dem Boden gestampft werden, Landwirtschaftsbetriebe und Kulturinstitutionen, Wasserleitungen und Dorfläden, sie alle ziert die Mitteilung "Hier tut die EU etwas". Manchmal bekommt man bei Reisen durch Europa den Eindruck, die EU sei nirgends so präsent wie dort, wo sie gar nicht ist, noch nicht ist. Aber dieser Eindruck täuscht wohl, weil in erster Linie diejenigen die Schilder anbringen müssen, die nicht in der EU sind, aber etwas von der EU oder in die EU wollen. Diejenigen, die es geschafft haben, am großen Tisch zu sitzen, brauchen diese blau-gelbe Zurschaustellung weniger, bei ihnen kehrt ein Automatismus ein, fließt das Geld ohne Bücklinge und Verrenkungen, ohne dass man Europa an die Wand schraubt. © Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V.,Reinhard Johler (Hg.): Where is Europe? Wo ist Europa? Où est l'Europe?: Dimensionen und Erfahrungen des neuen Europa. Tübingen 2013. © Dennoch schiene es nicht uninteressant, bei Gelegenheit wieder einmal auf die einst im Fach so populäre und heute weitgehend inexistente Methode der Kartierung zurückzugreifen und festzuhalten, wo überall die blau-gelben Embleme oder Abwandlungen davon auftauchen und in welchen Zusammenhängen sie stehen. Vielleicht würden wir Überraschungen erleben, was die Verbreitung und Verdichtung dieses sichtbaren Europas betrifft. Das Blau-Gelb der EU hat andere Vorstellungen Europas praktisch zugedeckt. Auch wenn es eine ganze Reihe weiterer europäischer Institutionen gibt, die in verschiedenen Bereichen wirken, so werden diese kaum je wahrgenommen, schon gar nicht von einer breiteren Bevölkerung. Die konsequente EU-Marken-und Labelarbeit mit dem Sternenkranz macht sich bezahlt. Hier soll aber nicht von Blau-Gelb, sondern von Rot-Weiß die Rede sein, nicht von den Ländern, die nicht zur EU gehören, aber gerne dazugehören möchten, nicht von den Ländern, bei denen gestritten wird, ob sie überhaupt zu Europa gehören oder nicht. Vielmehr geht es hier um ein Land, dem niemand die Zugehörigkeit zu Europa abspricht, in dem sich aber kein Blau-Gelb findet mit der Bemerkung "Hier tut, baut, finanziert ..." und in dem auch kaum jemand sehnsüchtig auf den schwebenden, doch unerreichbaren blau-gelben Ballon starrt: die Schweiz. Sie ist nicht Mitglied der EU und unterscheidet sich in diesen Punkten deutlich von den übrigen Nicht-EU-Mitgliedern (mit Ausnahme Norwegens), die in der blau-gelben Europaliga spielen möchten. Dennoch gibt es Übereinstimmungen mit diesen Ländern, die man vielleicht in der These bündeln könnte, dass Europa, verstanden als EU, nirgends so präsent ist wie dort, wo es nicht ist. Und diese Präsenz ist beileibe nicht nur eine, die bei Politikern zu spüren ist, oder nur eine spür-, aber kaum sichtbare. Diese Präsenz prägt auch die Schweiz visuell in einem enormen Ausmaß. Allerdings ist diese Sichtbarkeit keine konstante, sondern eine temporäre. In ganz bestimmten Rhythmen taucht Europa auf und verschwindet wieder, weniger als blau-gelber Ballon der Hoffnung denn als kaum fassbares Gespenst, Furcht erregend für die einen, faszinierend und betörend für die anderen. Doch wenden wir uns zunächst einigen Fakten zu, die für das Verhältnis der Schweiz zu Europa im Allgemeinen und zur EU im Besonderen als wichtig erscheinen.
doi:10.5451/unibas-ep37798 fatcat:v66xfqsy25cqzbn7izzux5n3em