Zur Frage der Kontagiosität der Encephalitis lethargica epidemica

Georg Stiefler
1922 Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie  
Die Encephalitis lethargica (E. 1.) ist, wie das ihr gegebene Beiwort "epidemiea" besagt, dttrch ein ausgesprochen epidemisehes Auftreten charakterisiert; sie hat als eine wahre Seuche fast den ganzen Erdball ergriffen und ist in versehiedenen Li~ndern und Gegenden in so ausgedehnten und 5rtlich dichten Epidemien aufgetreten, wie ahnliches hinsichtlich epidemiseher Erkrankungen des Zentralnervensystems wohl nur bei der spinalen Kinderli~hmung beobachtet worden ist. Wie bei letzterer kommt als
more » ... sache der E. 1. ein belebter Mikroorganismus in Frage, und es ergibt sich daraus ftir uns die Aufgabe, nach den Quellen und Wegen der Infektion zu suehen und vor allem nachzuforschen, ob die E. l: eine kontagiSse Erkrankung ist, die von Menseh zu Mensch iibertragen wird, wie dies bei der spinalen Kinderlahmung zuerst Wie km a n anl~l~lich der groBen schwedischen Epidemie im Jahre 1905 durch seine vorbildlichen, in ihrer Vollkommenheit unerreiehten Untersuchungen eindeutig festgestellt hat. Bei Durchsicht der vorliegenden Literatur der E. 1. finden wir zuni~chst bei v. E co no mo, der das Krankheitsbild der E. 1. als selbsti~ndige klinische Einheit geschaffen hat, dab Fi~lle yon Hausinfektion oder Erkrankung an Geschwistern, Ehepaaren und Stubengenossen nie beobachtet wurden, weshalb v. E c o n o m o den vSltigen Mangel einer Ubertragbarkeit der E. 1. yon Person zu Person betont. In der Mehrzahl der spi~ter erschienenen Arbeiten, deren Material den zahlreichen Epidemien des Jahres 1920 entstammt, wird die Frage der Kontagiositi~t tiberhaupt nicht beriihrt oder nur ab und zu in gleichfalls ablehnendem Sinne kurz beantwortet2). So sahen U m b e r , P i ot r o w s k i keine Verbreitung der E. 1. in den Krankens~len weder bei Kranken noch beim Pflegepersonal, C o m b y keinen Fall yon Kontagion. 1) Nach einem am II. Oktober 1921 im Verein fiir Psychiatrie und Neurotogie in Wien gehaltenen Vortrage. ') A n m e r k u n g bei der K o r r e k t u r : v. E e o n o m o wies allerdings erst kiirzlich darauf hin, dal] der Befund des Virus im Nasenrachenraum zur Vorsicht mahne und an die MSgliehkeit der Ubertragung dureh Taschentiieher denken lasse (Wiener reed. Wochenschr. 1921, Nr. 30). G. Stiefler: Zur Frage d. Kontagiositiit d. Encephalitis lethargica epidemica. 397 Griinewald hebt in seinem Sammelreferat hervor, dab die E. I. von Mensch zu Mensch nicht tibertragbar sei, Encephalitisfi~lle zu anderen Patienten gelegt werden k6nnen, ohne dab ffir dieselben die Gefahr der Kontaktinfektion besttinde. E. Mfiller konnte in seinen F~llen eine ~bertragung der E. 1. von Person zu Person und durch anseheinend gesunde ZwischentrEger nicht feststellen, er betont abet, "dab solche negativen Ergebnisse nur mit groBer Vorsicht zu verwerten sind, die Schwierigkeiten des Zwischentri~gernachweises au•erordentlich grol3 seien, ein einziger positiver Fall unendlich mehr bedente als zah]reiche negative". Die einschli~gige Literatur weist aber auch eine bereits ganz stattliche Anzahl vorwiegend aus Frankreich stammender gegenteiliger Beobachtungen auf, die daffir sprechen, dab die E. 1. zu den als kontagiSs anerkannten Infektionskrankheiten gehSrt. H. W. Maier gibt in seiner Arbeit einen kleinen Auszug des im Bulletin mensuel des "Office international d'hygi~ne publique" erschienenen ausffihrlichen Berichtes fiber das epidemische Auftreten der E. 1. in England und zum Teil auch in Frankreich, dem zu entnehmen ist, dab in England nach Einftihrung der Anzeigepflicht 338 l~lle gemeldet wurden, wovon 126 als sichere E. 1. betrachtet werden konnten. Hierunter fand sich eine Beobachtung yon familiiirer Erkrankung, 3 l~lle betreffend, die in der gleichen Wohnung nacheinander am 19. April, 4. und 8. Mai erkrankten. In dem erw~hnten Berichte wird die groBe Seltenheit der direkten Ubertragung betont und hierbei auf den letal endigenden Fall eines MEdchens gewiesen, das mit 4 Geschwistern im gleichen Bette schlief, wobei dieselben gesund belieben. H.W. Maier sah bei der Ziiricher Epidemie unter seinen F~llen ein real eine famili~re Erkrankung (2 F~lle in der gemeinsamen Wohnung) und ftihrt weiterhin aus, "da{~ fiber die tt~lfte der von ihm mitgeteilten F~lle Eisenbahnangestellte, deren AngehSrige oder vor der Erkrankung mit dem Fremdenverkehr in divekter Berfihrung waren. N e t t e r beschMtigte sich an der Hand eines groi~en Beobachtungsmaterials eingehend mit dem Studium der Kontagiosit~t der E. I. und fand, dab dieselbe in der Regel gering, nur in 4,6~o seiner Fi~lle vorhanden war; er bringt eine gr6l~ere Anzahl recht iiberzeugender Einzelbeispiele ffir die unzweifelhaft vorhandene Kontagiosit~t der E. I. und betont, da!~ selbst klinisch l~ngst abgelaufene F~lle, weiterhin die gesunde Umgebung des Kranken, vielleicht auch Gegenst~nde das Virus verbreiten kSnnen. N e t t e r empfiehlt mSglichst lange, bis in die Rekonvaleszenz hinein, dauernde Isolierung der Kranken, Desinfektion der Kleider, WEsche, des Krankenzimmers sowie Festsetzung der Anzeigepfticht. Die Aufnahme des Virus effolgt nach N e t t e r durch die Nasenh6hle, die Ausscheidung durch Nasen-und Mundh6hle. N'etter teilt an anderer Stelle noch 2 FMle von typischer E. 1. mit, deren Brfider 26*
doi:10.1007/bf02869773 fatcat:hff4of6x7bbddojzi4f3gtpoly