Zyklizität und Drama(turgie) in Scelsis viertem Streichquartett

Volker Helbing
2010 Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie [Journal of the German-Speaking Society of Music Theory]  
Die besonders stark ausgeprägte Prozessualität des vierten Streichquartetts Giacinto Scelsis ist der Grund, warum in diesem Beitrag zwei Aspekte der Formbildung im Mittelpunkt stehen. Es sind dies die bis zu einem gewissen Grade regelmäßige, ja zum Teil fast wörtliche Wiederkehr bestimmter Gesten, satztechnischer Konstellationen, Klänge (auch tonaler) oder Entwicklungszüge und die Orientierung an Bauprinzipien des klassischen Dramas, was das gezielte ›Vorführen‹ von Stationen, durch das im
more » ... tischen Verlauf entscheidende Ereignisse spannungsvoll ›vor-bereitet‹, Höhepunkte plastisch herausgearbeitet oder formale Zäsuren hervorgehoben werden, miteinschließt. Beide Aspekte -hier ›Zyklizität‹ und ›Dramaturgie‹ genannt -hängen aufs Engste zusammen: Zum einen gehört ›Wiederholung‹ zu den elementarsten Steigerungsprinzipien überhaupt und zum anderen wird erst an der veränderten Wiederkehr (von Formkomponenten ebenso wie von ganzen Formsegmenten) ein dramatischer Ablauf erfahrbar. Es fällt schwer, sich der Sogwirkung zu entziehen, die das einsätzige vierte Quartett Giacinto Scelsis zunächst noch eher zurückhaltend und immer wieder unterbrochen, ab der zweiten Hälfte dann aber nahezu durchgängig ausübt. 1 Die Ursachen für diesen bei einem Werk Scelsis eher seltenen Befund scheinen auf der Hand zu liegen: der mikrotonale Anstieg von einem vierteltönig erniedrigten c bis h als diastematischer Grundriss, die Verbreiterung der Einzelstimme zum vibrierenden und oszillierenden, pausenlos ineinander verflochtenen Stimmenstrang sowie eine zunehmend massive ›Orchestrierung‹. Und doch ist damit nicht erklärt, warum das Stück alles andere ist als eine Steigerungsetüde, warum das Interesse (auch beim wiederholten Hören) anhält, warum also am Ende nicht die Erschöpfung überwiegt, sondern der Eindruck, einem ›geschlossenen‹ Drama beigewohnt zu haben, das demnach eine wie auch immer geartete ›Form‹ besitzen muss. Der folgende Beitrag nähert sich diesen Fragen von zwei Beobachtungen her: Einerseits arbeitet auch diese Musik, so kontinuierlich und bis ins Kleinste nuanciert sie ist, mit den Mitteln der Wiederholung und der Variantenbildung, andererseits weist sie -bei aller klanglichen Avanciertheit -eine klare, ja traditionelle musikalische Dramaturgie auf, d. h. sie orientiert sich ebenso an Bauprinzipien des klassischen Dramas, wie sie auch 1 Tristan Murail, der für Scelsi insgesamt einen Verzicht auf prozesshafte Gestaltungen konstatiert (und damit eine deutliche Differenz zur eigenen Formkonzeption), zeigt sich von einigen einsätzigen Werken wie dem vierten Quartett und Anahit aufgrund ihrer »strengeren Formauffassung« stärker angezogen und spricht er von der »einzigartigen und unwiderstehlichen Geste«, als die sich »etwa der langsame und eindeutige Aufwärtstrend des vierten Streichquartetts darstellt [...]« (1999, 63). VOLKER HELBING 268 | ZGMTH 7/3 (2010) zentrale Stationen der Form ›vorführt‹. Beide Aspekte hängen aufs Engste zusammen, insofern Wiederholung zu den elementarsten Steigerungsprinzipien gehört und an der veränderten Wiederkehr (von Formkomponenten ebenso wie von ganzen Formsegmenten) der dramatische Ablauf überhaupt erst erfahrbar wird. Es ist ein fait accompli der Forschung, Tendenzen zu Regelmaß, Periodizität und Gliederung bei Scelsi seien durch ein übergreifendes Streben nach Kontinuität und Prozesshaftigkeit relativiert. 2 Dementsprechend werden wörtliche Übernahmen vor allem unter dem Aspekt der Rückläufigkeit diskutiert. 3 Dass die Gestaltung des vierten Streichquartetts hierzu im Widerspruch steht, ist offensichtlich. (Die Klärung der Frage, ob das Werk in dieser Hinsicht als exzeptionell zu gelten hat 4 oder auch andere Stücke solche Tendenzen aufweisen, kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden und bleibt weiterführenden Untersuchungen vorbehalten. 5 ) Vorbemerkungen Schaffensprozess und Autorschaft Die Aufregung darüber, dass Scelsis Musik seit den 1940er Jahren durchweg auf ›im-provisierten‹ oder komponierten Tonbändern basiert, die von teilweise hervorragenden ›Handwerkern‹ in Partitur übertragen und von Scelsi nur mehr nachträglich überprüft wurden, hat sich mittlerweile gelegt. 6 Im Falle des vierten Quartetts kann man nach den 2001 in The Musical Times abgedruckten Erinnerungen Franco Sciannameos 7 davon ausgehen, dass die Ausarbeitung der Partitur im Wesentlichen von Vieri Tosatti übernommen wurde: Er war es, der mit »unfehlbarem Gehör« die Einspielung und Uraufführung
doi:10.31751/575 fatcat:6ff4dw2xznhazkj5tqyvnfmqfy