Visualisierung und klassische Geometrie

Oswald Giering
2001 Mitteilungen der DMV  
Wenn man bedenkt, dass Armbanduhren die Zeit visualisieren, dass Seifenhäute Minimalflächen und Verbotsschilder Verbote visualisieren, dass Fraktale gewisse Algorithmen visualisieren, die Limesbilder liefern, und dass Götterbilder Visualisierungen sind, deren Original selbst die Hersteller kaum kennen, dann wird offenbar, dass man dem Thema "Visualisierung und klassische Geometrie" eine Breite einräumen kann, die sich hier nicht abdecken lässt. Wir beginnen mit der Frage: "Was heißt
more » ... n?" und wir antworten: "Visualisieren heißt sichtbar machen", etwas spezieller "ein Bild machen von . . .". Für klassische Geometer heißt dies konkret: "Ein (zwei-oder dreidimensionales) Bild erzeugen mit Hilfe geeigneter gesetzmäßiger Verfahren". Zur Beschreibung dieser Verfahren benötigt die klassische Geometrie dreierlei: 1. einen Raum, meist einen Anschauungsraum R n , n ≥ 2, mit passender Struktur und eventuell passend erweitert, 2. eine Abbildungsvorschrift, meist realisiert durch ein Abbildungsmittel, das häufig aus projizierenden Geraden besteht, die im einfachsten Fall ein Geradenbündel bilden, wie dies schon Albrecht Dürer in Abb. 1 praktizierte, und 3. einen Bildraum, meist den R 3 , wenn dreidimensionale Bilder, etwa mathematische oder andere Modelle, entstehen sollen, oder eine Bildfläche, meist eine begrenzte Bildebene (Abb. 1) oder einen Bildschirm (Abb. 2). Der so gegebene Rahmen bietet noch immer so viele Freiheiten, dass sich weder Systematik noch Vollständigkeit erreichen lassen. Auch die ausgewählten "Einzelthemen", denen wir uns sogleich zuwenden, lassen sich keineswegs erschöpfend behandeln. Wir werden aus dem breiten Spektrum von Visualisierungsthemen lediglich neun "Spektrallinien" ("Einzelthemen") herausgreifen, sozusagen neun "Fenster" öffnen, kurz hindurchschauen und andeuten, was die klassische Geometrie bieten kann und was vielleicht noch wenig genutzt wird, ohne uns in Details zu verlieren. Dabei können sich die Ausblicke naturgemäß überschneiden.
doi:10.1515/dmvm-2001-0016 fatcat:6nuift5s2jdizc3zln73zkuylu