»Promenade« oder die Lust, im Licht der Skepsis zu wandeln [chapter]

Dietrich [Hrsg.] Harth
2015
Dietrich Harth »Promenade« oder die Lust, im Licht der Skepsis zu wandeln Je ne suis point auteur Diderot Würde ich hier und jetzt fragen: Mögen Sie Bilder? so käme wohl niemand auf die Idee zu antworten: Ja, aber nur in Erzählungen. Eben diese merkwürdige Antwort gab der Herr, wie sich der gebildete Leser vielleicht erinnern wird, seinem listigen Diener Jac ques, als der ihn mit der zitierten Frage auf eine Geschichte einstimmen wollte, die zu erzählen er sich anschickte, um die Langeweile
more » ... s Wirtshausabends zu vertreiben. 1 Er appellierte mit seiner Frage an die bildnerische Vorstellungskraft seines Zuhörers und rief ihm so den Schauplatz der erzählten Handlung, einen bestimmten Ort in Paris, in Erinnerung. Auch Sie möchte ich bitten, sich mithilfe der Phantasie nach Paris zu begeben und zwar in die rue SaintHonore, vor das Haus Nr. 374, unweit der Place LouisleGrand. 2 Wir stehen vor dem Portal, wir gehen die Treppen hinauf, es ist ein Mittwochabend im Jahre 1755, und Mme MarieTherese Geoffrin erwartet, wie jeden Mittwoch, im großen Salon die Gäste. Dieser mit klassizistischem Dekor verzierte Salon hat, abgesehen von kleineren Maßen, manche Ähnlichkeit mit dem Salon Carre, dem Ausstellungssaal des Louvre. Die hohen Wände sind mit den Bildern der besten zeitgenössischen Künstler bedeckt. In dem von der Seite einfallenden starken Licht können wir gut erkennen, was sie darstellen: antike Szenen, englische Landschaften, dazwischen ovale Portraits be rühmter Frauen und Männer, vor der Rückwand eine überlebensgroße Büste Voltaires, und hoch darüber ein Seestück, auf dem die Natur im dramatischen Gewühl eines Sturms zu sehen ist. Die Eintretenden überrascht die große Zahl der hier Versammelten. Fünfzig bis sechzig Personen, vorwiegend Männer, haben sich um die Büste Voltaires geschart, vor deren Sockel an einem Tisch der Schauspieler Lekain sitzt, hinter ihm mit ausdrucks starker Gebärde, Mlle Clairon, die berühmte Tragödin. Es ist ein überaus theatralisches Bild: Die Schauspieler tragen in der von manchen Schriftstellern neuerdings befohlenen 1. CEuvres completes de Diderot (Hermann, Tome XXIII; zit. H XXIII), Jacques le fataliste et son maitre, eds. Jacques Proust/Jack Undank, Paris 1981, 203 2. Heute: Place Vendome 3. CEuvres completes de Diderot, eds. J. Assezat/M. Tourneux, Tome XVI (zit. A-T XVI), Paris 1876, 2731 4. "C'est cette habitude de deraison que possedent dans un degre surprenant ceux qui ont acquis ou qui tiennent de la nature le genie de la physique experimentale; c'est ä ces sortes de reves qu'on doit plusieurs decouvertes. Voila l'espece de divination qu'il faut apprendre aux eleves, si toutefous cela s'apprend." De l'interpretation de la nature, A-T II (1875), 26
doi:10.11588/heidok.00018779 fatcat:2c7e3m5nzre73hivqduxllbj7m