Ueber transitorische Geistestörungen auf hysterischer Basis1)

M. Sander
1901 Deutsche Medizinische Wochenschrift  
Frankfurt a. M. Der Begriff der transitorischen Geistesstörung ist aus der psychiatrischen Nomenklatur fast geschwunden. Bei dem heutigen Bestreben, die Psychosen nicht mehr nach rein symptomatologischen Gesichtspunkten, sondern nach Aetiologie, Verlauf und Prognose einzutheilen, ist für die transitorischen Psychosen kein Platz mehr vorhanden. Mit Recht hat man betont, dass diese kurz vorübergehenden, nur auf Stunden oder Tage sich erstreckenden geistigen Störungen, die man früher unter dem
more » ... iff der transitorischen Geistesstörung zusammenfasste, keine besondere klinische Stellung zu beanspruchen haben, sondern meist auf dem Boden der Epilepsie, Hysterie oder Imbezillität erwachsen und nur eine Phase dieser Krankheitszustände darstellen. Allerdings lehrt die Erfahrung, dass auch ohne jede schwerere degenerative Veranlagung derartige kurz vorübergehende Psychosen auftreten können, die auf Grund eines einmaligen oder wiederholter gemüthlicher Eindrücke ganz plötzlich in voller Gesundheit das Individuum treffen, ebenso plötzlich nach Stunden oder höchstens Tagen verschwinden, ohne dass weder vorher noch nachher irgend welche Zeichen einer schwereren Psychose oder NeiLirose vorhanden wären. Das hohe praktische Interesse, das solche Fälle verdienen, lässt eine Veröffentlichung derselben durchaus rechtfertigen. Für die Ueberlassung der Krankengeschichten bin ich meinem Chef, Herrn Direktor Dr. Sioli in Frankfurt a. M., zu Dank verpflichtet. Fall 1. Lina E., 21 Jahre alt, Kammerjungfer. Vater Potator, Mutter gesund, desgleichen Grosseltern und Geschwister. Patientin hat sich als Kind normal entwickelt, litt in früher Jugend an Krampf en, die später nicht mehr auftraten. Nach der Schulzeit in verschiedenen Stellungen, die sie stets zur vollsten Zufriedenheit ihrer Herrschaft ausfüllte. Einmal für kurze Zeit in Folge Ueberanstrengung etwas nervös erschöpft, erholte sie sich zu Hause schnell wieder. In der letzten Zeit vor der Erkrankung hatte Patientin ein Verhaitniss mit einem jungen Manne, das die Mutter nicht zugeben wollte, da derselbe Trinker war. Darüber scheint sie sich viel Kummer gemacht zu haben, obgleich sie sich nie darüber aussprach. Am Abend vor ihrer Aufnahme in die Anstalt erschien sie noch durchaus normal, besorgte ruhig ihren Dienst, ging dann mit ihren Zimmergenossinnen aufs Schlafzimmer, um zu Bett zu gehen. Als die anderen Mädchen sich hingelegt hatten, nahm sie Hut und Jaquet, um fortzugehen, riss dann plötzlich das Fenster auf und. versuchte hinunterzuspringen, musste mit Gewalt von den anderen Mädchen zurückgehalten werden, versuchte aber noch wiederholt, sich loszureissen und das Fenster zu gewinnen. Sie sprach dabei immer, ich will fort, ich will fort." Sie wurde dann zu Bett gebracht, hatte verschiedene Male Schüttelfrost, klagte selbst über Hitze, zeigte einen rothen Kopf, schlotterte am ganzen Körper. Sie machte noch wiederholt Versuche, aus dem Bett herauszukommen, musste festgehalten werden, biss dabei auch um sich, blieb aber schliesslich liegen. Sie sprach dann die ganze Nacht wie phantasirend vor sich hin, winkte mit der Hand, flüsterte: Leb' wohl auf Nimmerwiedersehen, es kann nicht sein, es wird doch nie werden, es ist ja für immer vorbei." Auch sprach sie vom Himmel, da sehne sie sich danach, citirte Sprüche, harre aus bis zum Ende, ich suche nur Friede und finde ihn nicht, es drückt mich, mit mir ist es vorbei" u. dergi. Wiederholt sagte sie, es werde ihr gerufen, sie komme, sobald sie losgelassen werde, rief selbst mehrmals: Ruft nur lauter, damit sie es hören, dann lassen sie mich los, wartet nur, in einer Stunde bin ich da." Sah Engel, hörte sie singen, sprach: wie schön singt ihr, sie bekäme auch so schönes Kleid und Flügel.« Sie sah auch ihren Vater, sprach, mit dem ginge sie nicht, da er falsch sei. Sprach ferner von zwei Tafeln, die sie sehe, auf der einen seien die Sünden, auf der andern die Tugenden. Sie habe etwas auf dem Gewissen, das sie drücke. Fragte sich selbst, was hast du gethan", und gab die Antwort darauf. Die ganze Nacht weinte und lachte sie abwechselnd, spuckte viel aus, biss sich mehrmals mit den Zähnen heftig auf die Unterlippe, flüsterte vor sich hin, winkte mit der Hand, machte allerhand nervöse Bewegungen. Gegen Morgen schlief sie ein und war, als sie um 9 Uhr früh aufwachte, wieder völlig klar. Gegen Mittag wurde sie in die Anstalt gebracht, erschien hier durchaus geordnet und klar, wusste nichts von den Vorgängen der vergangenen Nacht, meinte, das müsste durch die Familienverhältnisse, durch den Kummer gekommen sein, der sie in letzter Zeit bedrückt habe. Sie wusste nichts davon, dass sie sich wiederholt zum Fenster hinausstürzen wollte, das haben sie mir nachher gesagt, dass ich solchen 1) Das Manuskript zu dem Artikel ist am 16. Januar d. J. der Redaktion überliefert worden. Unsinn gemacht habe, das weiss ich nicht, ich weiss, dass irgend etwas vorgefallen sein muss, ich weiss aber nichts definitiv, ich kann das gar nicht begreifen". Patientin erscheint auch die nächsten Tage durchaus ruhig und klar, die körperliche Untersuchung ergiebt keinerlei hysterische Stigmate, auf psychischem Gebiet andauernd völlige Amnesie für das vorgefallene. Nach dreitagigem Aufenthalt als geheilt entlassen. Hier handelt es sich also um eine akute halluzinatorische Verwirrtheit von zwölfstündiger Dauer im Anschluss an traurige Gemüthsbewegungen (Liebeskummer), die längere Zeit eingewirkt hatten. Die im Beginn aufgetretenen vasomotorischen Erscheinungen, Schüttelfrost, Hitzegefühl, gerötheter Kopf, deuten auf den anfalisartigen Zustand der Psychose hin. Fall 2. 5. B., 18 Jahre alt, Dienstmädchen. Vater nervös, Mutter und Geschwister, soweit am Leben, gesund. Patientin hat sich normal entwickelt, in der Schule gut gelernt, später als Dienstmädchen in Stellung. Immer etwas reizbar und leicht aufgeregt. In der letzten Stellung seit einigen Monaten, die Herrschaft war mit ihr sehr zufrieden. Einen Tag vor der Erkrankung erhielt sie einen Brief von ihrem Liebhaber, worin ihr derselbe mittheilte, er habe seinem Vater 200 Mark genommen und sei in die Schweiz durchgegangen. Diese Nachricht ging ihr sehr nahe, doch benahm sie sich bis zum nächsten Tage nicht auffallend. Am Mittag desselben redete sie plötzlich irre, ganz verworren, sie wolle sterben, sie kriege keinen Mann mehr, der schlechte Kerl habe sie verlassen u. dergl. Versuchte sich den Hals zuzuziehen, wollte sich die Treppe hinunterstürzen, wurde schon nach wenigen Stunden der Anstalt zugeführt. Bei der Aufnahme erscheint sie verwirrt und unruhig, weint viel. Auch am nächsten Morgen noch völlig unklar, wirft sich unruhig im Bett umher, wühlt das Bettzeug durcheinander, streicht beständig die Bettdecke glatt, halluzinirt Einzelne Fragen nach Namen, früherer Wohnung u. S. f. beantwortet sie richtig, macht aber über ihr Alter, Geburtstag und gegenwärtigen Aufenthaltsort ganz falsche Angaben. Was war zu Hatíse passirt? Weiss nicht, der kommt nicht mehr, der kommt nicht mehr, der schreibt nicht mehr, ich weiss es nicht." (Lacht, richtet sich im Bett auf, sieht starr auf einen Punkt) : Da steht er, da steht er, kann gar nicht dabei kommen, er weiss warum, er weiss.« Wer steht dort? Ja, den ich geliebt habe, das weiss ich, das weiss ich, er soll nur kommen, nichts mehr von ihm, ich bin unglücklich, ich sterbe bald." Jetzt hat er sich versteckt, schauen Sie nur, wie er sich mit der versteckt hat." Jetzt kommt bald mein Vater, der wird mich schon nehmen." Führt beständig Selbstgespräche, weint und lacht abwechselnd. Die körperliche Untersuchung ergiebt normale Verhältnisse bis auf eine völlige Anästhesie für Nadelstiche am ganzen Körper, mit Ausnahme der Fusssohlen und des Gesichts. Gegen Mittag, im Anschluss an ein längeres Bad, klarer, weint längere Zeit, als sie auf dem Bettzeug Irrenanstalt" liest und dadurch erfährt, wo sie sich befindet. Am nächsten Morgen völlig orientirt, geordnet, giebt sachgemässe Antwort. An den Erregungszustand keine Erinnerung, meint, sie wäre schon vier Tage da, erzählt von dem Brief, den sie von ihrem Liebhaber erhalten, ich hab' den Brief immer wieder gelesen, da wurd' ich aufgeregt."
doi:10.1055/s-0029-1186953 fatcat:g6bzxhjmbfg65asq5zrbhyx3dq